Die Sunna ist nach dem Koran die zweite Quelle der islamischen Rechtsprechung. Beide wurden von Allah offenbart, jedoch unterscheiden sie sich darin, dass der Koran Gottes wortwörtliche Botschaft darstellt, während der Wortlaut der Hadithe von dem Propheten (ṣ) formuliert wurde. Eine Ausnahme stellen Qudsīhadithe dar, deren Wortlaut der mehrheitlichen Meinung nach ebenfalls von Allah stammt. So unterscheiden sich ein Vers und ein Qudsīhadith hauptsächlich in der Unnachahmlichkeit (iʿǧāz) und in der Rezitation. Das heißt, dass man für die einfache Lesung eines Qudsīhadiths keine gesonderte Belohnung erhält, wie es beim Rezitieren eines Koranverses der Fall ist. Ebenso ist der Wortlaut in einem Qudsīhadith nicht unnachahmlich.
Ein anderer wesentlicher Unterschied zwischen den Hadithen und Koranversen besteht darin, dass alle Koranverse zweifelsfrei authentisch sind und diese vielfach von Generation zu Generation weitergegeben wurden (mutawātir), wobei Hadithe meistens nicht in mutawātir-Form überliefert sind. Deshalb gibt es unterschiedliche Einstufungen aḥād-Hadithe, wobei sie im Allgemeinen in authentischen und nichtauthentischen Hadithen aufgeteilt werden können.
Nichtauthentische Hadithe beziehungsweise schwache Hadithe lassen sich wiederum hinsichtlich ihrer Schwäche in zwei Kategorien unterteilen:
- Hadithe mit leichter Schwäche: Diese sind Hadithe, die in ihrer Überlieferungskette keine Fälscher oder keine Überlieferer enthalten, die hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit stark kritisiert worden sind (z. B. ḍaʿīf ǧiddan, munkar al-ḥadīṯ etc.), sondern es sind jene, welche in der Regel vertrauenswürdig sind, jedoch Schwächen in der Merkfähigkeit haben und somit nicht als zuverlässig gelten. Bei Hadithen solcher Tradenten ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass sie unauthentisch sind bzw. größer als, dass sie doch authentisch sein könnten. Solche Hadithe können manchmal die unterste Stufe der Authentizität erreichen (‚gut/akzeptabel durch unterstützende Faktoren‘, ḥasan li ġayrihi), falls sie von einer anderen Überlieferung oder Überlieferungskette gestützt werden.
- Hadithe mit starker Schwäche: Das sind Hadithe, die sehr schwache Überlieferer haben, wie beispielsweise unehrliche oder jene, die eine sehr schwache Merkfähigkeit haben und somit mehr Fehler in ihren Überlieferungen aufweisen, als dass sie richtig liegen könnten. Solche Überlieferungen können nicht die unterste Stufe der Authentizität erreichen, auch wenn sie viele Überlieferungsketten enthalten. Sie bleiben immer schwach, da die Wahrscheinlichkeit eines Wahrheitsgehalts sehr gering ist beziehungsweise nicht vorhanden ist.
Nun stellt sich die Frage, ob schwache Hadithe als Beweisgrundlage geltend gemacht werden bzw. in welchen Bereichen sie als Quellen herangezogen werden können. Je nach Themengebiet eines Hadiths unterscheidet man im allgemeinen Folgende Themengebiete:
-islamrechtliche Regelungen (ḥalāl/ḥarām)
-Motivations- und Abschreckungszwecke (at-Tarġīb wa at-tarhīb)
-vorzügliche Handlungen (Faḍāʾil al-aʿmāl)
-Feldzüge und Propheten-Biographie (as-siyar wa al-maġāzī)
-Koranexegese (tafsīr)
-Geschehnisse der Endzeit (malāḥim) und weitere.
Zunächst ist festzustellen, dass alle Gelehrten sich einig sind, dass aus Hadithen mit starken Schwächen keine Rechtsurteile herabgeleitet werden können, weder im Bereich des Rechtlichen bzw. Erlaubten und Verbotenen (ḥalāl-ḥarām), at-Tarġīb wa at-tarhīb oder in Faḍāʾil al-aʿmāl. Solche Überlieferungen dürfen auch nur tradiert werden, wenn gleichzeitig auf ihre Schwäche hingewiesen wird[1].
Was die erste Kategorie (mit leichten Schwächen) anbelangt, so gibt es Divergenzen unter den Gelehrten, ob man solche Hadithe, als gültige Beweise heranziehen kann. Hierzu gibt es drei Meinungen:
Die erste Auffassung ist, dass Hadithe mit geringfügiger Schwäche, trotzdem akzeptiert werden sollten, sei es in der Rechtsprechung oder auch in Faḍāʾil al-aʿmāl oder at-Tarġīb wa at-tarhīb. Die Bedingung hierfür ist, dass es keine anderen authentischen Hadithe in dem jeweiligen Themenbereich geben darf und dass nichts gegen den Inhalt des schwachen Hadiths spricht.
Der Beweis, den die Vertreter dieser Einstellung hierfür anführen, lautet folgendermaßen:
Auch wenn der Hadith eine leichte Schwäche hat, so besteht immer noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieser doch authentisch sein könnte. Wenn es keine anderen Quellen gibt, die dem Inhalt des schwachen Hadiths widersprechen, können wir ihn verwenden. Des Weiteren sind sie der Auffassung, dass ein schwacher Hadith immerhin besser als eine bloße Meinung sei. Diese Haltung wird unter anderen Imām Abū Ḥanīfa (gest. 150/767), Imām Mālik (gest. 179/795), Imam aš-Šāfiʿī (gest. 204/820) und Imām Aḥmad b. Ḥanbal (gest. 241/855) zugeschrieben, denn sie alle haben sich in bestimmten Angelegenheiten durchaus bewusst auf schwache Hadithe gestützt und sie der bloßen Meinung oder der Analogie vorgezogen[2]. Eine bekannte Aussage diesbezüglich ist die von dem bekannten Hadithgelehrten ʿAbdurraḥmān b. Mahdī (gest. 198/814): „Wenn uns Berichte des Propheten über Urteile und was
Erlaubte (ḥalāl) und Verbotene (ḥarām) erreichten, gingen wir streng mit ihren Überlieferungsketten um und überprüften den Tradenten kritisch. Aber wenn wir Berichte erhielten, die sich mit vorzüglichen Handlungen (Faḍāʾil al-aʿmāl) befassten, ihre Belohnungen und Strafen [im Jenseits], zulässige Dinge oder rechtschaffe Handlungen, so gingen wir leichter mit ihren Überlieferungsketten um.“[3]
Die zweite Meinung besagt, dass Hadithe mit leichter Schwäche in keinem Bereich akzeptiert werden, weder in der Rechtsprechung noch in Faḍāʾil al-aʿmāl oder at-Tarġīb wa at-tarhīb etc. Denn, auch wenn die Schwäche nicht sehr ausgeprägt ist, reicht sie dennoch aus, um die Zuverlässigkeit der Überlieferung in Zweifel zu ziehen. Solch eine Überlieferung hat zwar eine Wahrscheinlichkeit, wahr zu sein, jedoch ist diese sehr gering und fällt laut den Gelehrten dieser Meinung in die Kategorie der Mutmaßung. Allah sagt darüber: „Und die meisten von ihnen folgen nur Mutmaßungen. Aber Mutmaßungen nützen nichts gegenüber der Wahrheit“[4].
Darüber hinaus gibt es reichlich authentische Hadithe, die alle Themenbereiche abdecken, sodass man keine schwachen Hadithe brauche. Diese Meinung wird von mehreren Hadithgelehrten vertreten, wie von Ibn Maʿīn, al-Buḫārī, Muslim, Abu Zurʿah ar-Rāzī, Abū Ḥātim ar-Rāzī, Ibn Ḥazm, Ibn Taimiyya, aš-Šawkānī und von den zeitgenössischen Hadithgelehrten Ahmad Šākir und Al-Albani.[5]
Der dritten Meinung liegen folgende Ideen zugrunde: Hadithe mit ‚leichter‘ Schwäche werden nur in Faḍāʾil al-aʿmāl oder at-Tarġīb wa at-tarhīb akzeptiert. Rechtsprechungen dürfen aber darauf nicht aufgebaut werden. Dies wird laut an-Nawawī von den meisten Hadith- und Fiqhgelehrten vertreten. Er stellt dazu sogar einen Konsens fest. Wenn dieser schwache Hadith in der Tat authentisch wäre, so hätte man mit dem Handeln danach etwas Gutes getan. Wenn er aber in der Tat schwach ist, so ist damit keine Rechtsprechung gegeben. Es wurde also nichts für ḥalāl oder ḥarām erklärt, so dass keinem Menschen in irgendeiner Form geschadet werde.
Die Vertreter dieser Meinung stellen aber neben der leichten Schwäche bestimmte Bedingungen auf, um sich auf solche Hadithe stützen zu können:
Sie sollen sich auf eine allgemeine Grundlage des Islam stützen.
Man soll nicht glauben, sie seien authentisch, während man danach handelt. Man handelt somit gewissermaßen sicherheitshalber.
Es soll sich nicht um einen Hadith der Rechtsprechung (ḥalāl oder ḥarām) handeln.
Er darf keinem authentischen Hadith widersprechen.
Er darf den Inhalt dieses Hadiths nicht der Sunna zuschreiben.[6]
Erwähnenswert ist jedoch, dass der Gelehrte Ibn Taimiyya und sein Schüler Ibn al-Qayyim der Meinung sind, dass wenn die Hadithgelehrten der ersten Generationen von leichter Schwäche reden, sie den ḥasan-Hadith beabsichtigen, also den akzeptablen Hadith und nicht den Hadith, der eine tatsächliche Schwäche aufweist. Dies ist der Fall, weil die Hadithterminologie zu der Zeit nicht entwickelt war und sie den Hadith nur in ṣaḥīḥ (darunter ḥasan) und ḍaʿīf kategorisierten.[7] Auch wenn die erste Meinung den Imamen der vier Rechtsschulen zugeschrieben wird, so ist es dennoch fraglich, ob dies tatsächlich ihre Meinung im Allgemeinen darstellt, da es von ihnen keine ausdrücklichen Aussagen diesbezüglich gibt, sondern nur bestimmte Ableitungen. Solche Schlussfolgerungen müssen aber nicht unbedingt die Meinung der Imame darstellen.
Eine Ausnahme könnte die Ansicht von Imām Aḥmad b. Ḥanbal zu diesem Thema sein: „Ein schwacher Hadith ist mir lieber als die (bloße/eigene) Meinung.“ Ibn Taimiyya und Ibn al-Qayyim präzisierten aber was er damit gemeint haben könne, was wiederum nicht frei von Kritikpunkten ist. Ein Beweis dafür, dass dies nicht ihre allgemeine Meinung widerspiegelt, kann folgender Punkt darstellen: Wenn die Gelehrten in ihren Fiqhbüchern ihre eigene Meinung vertreten und andere Meinungen kritisieren, so findet man oft, dass sie dies auf Basis der Authentizität der Überlieferungen machen. Ein schwacher Hadith ist bei ihnen also ein Kritikpunkt in der Beweisführung. Dies sollte nicht der Fall sein, wenn sie diesen als Beweise sehen würden.
Auch die dritte Meinung wurde infrage gestellt, denn die Scharia mache keinen Unterschied in der Beweisführung zwischen Rechtsprechung, Glaubenslehre oder freiwilligen Taten etc.: Man müsse sich in jedem Bereich auf authentische Beweise stützen. Die Tatsache, dass die zweite Meinung von vielen großen Hadithgelehrten vertreten wird, beweist, dass es in Wirklichkeit keinen Konsens, den An-Nawawī über der dritten Meinung erwähnt, geben kann. As-Saḫāwī und As-Suyūṭī bestätigen auch das Vorhandensein der Meinungsunterschiede.[8]
Darüber hinaus sind die Bedingungen, die in der dritten Meinung erwähnt wurden, sehr schwer einzuhalten. Deshalb ist der zeitgenössische Hadithgelehrte Al-Ḫudair der Auffassung, dass kein Beispiel für eine Handlung zu finden ist, in der diese Bedingungen erfüllt werden.[9] So scheitern die meisten bei der ersten Bedingung, und zwar dass der Hadith nur eine leichte Schwäche haben darf. Sie ist schwer anwendbar, denn nur Hadithgelehrte können die Stärke der Schwäche beurteilen und deshalb findet man sehr oft nur sehr schwache Hadithe, auf die sich Muslime in Faḍāʾil al-aʿmāl oder at-Tarġīb wa at-tarhīb stützen. Die Bedingung, dass man dann während der Ausübung einer Tat, welche auf einem schwachen Hadith basiert, nicht glauben soll, dass er authentisch ist, ist ein Widerspruch in sich; man handelt nur aus Überzeugung und Überzeugungen müssen auf gültigen Beweisen basieren. Sicherheitshalber in diesem Fall ist es, nicht nach einem solchen schwachen Hadith zu handeln, bis man authentische Grundlagen dafür hat. Der Prophet (s) sagte: „Wer von mir etwas berichtet, was nach einer Lüge aussieht, so gehört er zu den Lügnern.“[10] Der bekannte andalusische Gelehrte Ibn al-ʿArabī (gest. 543/1148) kommentierte diesen Hadith:
„Die Gelehrten sagen, dass man nur von zuverlässigen Menschen Überlieferungen annehmen darf und falls man von unzuverlässigen Menschen weitertradiert so hätte man von einem Hadith berichtet, welcher nach einer Lüge aussieht“[11]
Nach Abwiegen der unterschiedlichen Meinungen, könnte die zweite Meinung vorzüglicher sein, nämlich, dass schwache Hadithe keine Beweise in jeglichen Bereichen des Islams sind. Es gibt genug authentische Überlieferungen vom Propheten (ṣ), die alle Bereiche des Islams abdecken. Dies bedeutet aber nicht, dass man Hadithe mit leichter Schwäche verwerfen muss. Wenn sich nämlich zwei leicht schwache Hadithe gegenseitig stützen, so erreichen sie die unterste Stufe der Authentizität (ḥasan li ġayrihi) und können somit als Beweise herangezogen werden. Darüber hinaus haben berufen sich einige Gelehrte auf Hadithe mit leichten Schwächen für die Bevorzugung bestimmter Argumente (at-tarǧīḥ) oder auch in der Koranexegese und in der islamischen Geschichte im Allgemeinen, um damit zum Beispiel bestimmte Lücken in einer Erzählung zu füllen.
[1] Siehe as-Saḫāwī: al-Qawl al-badīʿ, S. 258.
[2] Siehe: al-Ḫudair: al-Ḥadīṯ aḍ-ḍaʿīf, S. 250-258; Brown, Jonathan: Even if Itʼs Not True Itʼs true: Using Unreliable Ḥadīths in Sunni Islam (Brill, Islamic Law and Society 18 2011, 1-52), S. 5.
[3] Al-Ḥākim: al-Mustadrak, Bd. 1, S. 490 f.
[4] Koran, 10:36.
[5] Al-Ḫudair: al-Ḥadīṯ aḍ-ḍaʿīf, S. 260-270
[6] Ibid, S. 272 f.
[7] Ibn Taimiyya: Minhāǧ as-sunna, Bd. 2, S. 191.
[8] As-Saḫāwī: Fatḥ al-muġīṯ, Bd. 1, S. 268; as-Suyūṭī: Tadrīb ar-rāwī, S. 196. Siehe auch: Brown, S. 3.
[9] Al-Ḫudair: al-Ḥadīṯ aḍ-ḍaʿīf, 296.
[10] Muslim: Muqaddima,
[11] Ibn al-ʿArabī: ʿAriḍat al-aḥwaḏī, 10, S. 129.