Die Common Link Theorie im Lichte der klassischen Hadithwissenschaften

Ein Essay von Ahmed Sayed

Abstract

 

In der folgenden Abhandlung möchte ich mich mit der Frage beschäftigen, wie das Phänomen des Common Links aus orientalistischer und klassisch-hadithwissenschaftlicher Sicht betrachtet wurde. „Common Link“ (CL) ist ein Begriff, der von Schacht geprägt und von Juynboll weiterentwickelt worden ist. Diese sind zwei einflussreiche Orientalisten des 20. Jahrhunderts, die in ihrer Skepsis gegenüber der klassischen Hadithtradition der Muslime, in die Fußstapfen von Ignaz Goldziher getreten sind. Schacht war der Meinung, eine Schwachstelle in der Hadithtradition gefunden zu haben, die als „Common Link Theorie“ (CL-Theorie) bekannt wurde. Er behauptete, dass sich der Urheber eines Hadithes durch den Common Link ausfindig machen ließe. Der Common Link ist der Überlieferer im isnād, nach dem der Hadith Verbreitung gefunden habe. Vergleicht man die Überlieferungskette mit einer Baumstruktur, so ist der Common Link die Stelle von der aus die Baumkrone über den Stamm hinausragt. Der Baumstamm spiegelt dabei den Hadith von seiner Wurzel bis zu diesem erwähnten Common Link wider. Dabei veranschaulicht der Baumstamm, dass sich bis zum Common Link nur einzelne Personen an der Überlieferung beteiligt haben. Das bedeutet beispielsweise, dass nur ein Gefährte diesen Hadith an nur einen tābiʿi und dieser wiederum an nur einen tābiʿu at-tābiʿī tradiert hat, bis er dann nach dem Common Link von vielen überliefert worden ist und damit, wie die Krone eines Baumes, seine vielen Verästelungen bekommen hat. Schacht behauptete, dass der einzige nachweisbare Moment für die Existenz des Hadithes dieser Common Link (Ende des Stammes/Anfang der Baumkrone) sei und dass die behauptete Kette (der Baumstamm) vor ihm nur die Lüge des Common Links darstelle. Nach Schacht wäre nicht nur die angeführte Überlieferungskette, sondern auch der überlieferte Inhalt erlogen. Ihm nach existiere also tatsächlich nur eine Baumkrone, die in sich zusammenfalle, da sie in Wahrheit nicht den behaupteten Baumstamm und damit auch nicht die behauptete Quelle besitze.

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Infografik

Die Common Link Theorie war für einige Jahrzehnte die dominierende Theorie in der orientalistischen Hadithwissenschaft und wird von ihrer Grundidee her nach wie vor in vielen neueren Methoden zur Authentizitätsprüfung (siehe Isnad-cum-matn-Analyse) verwendet.

In meiner Untersuchung werde ich zeigen, welche Kritiken diese Theorie aus den Reihen westlicher Orientalisten erfahren hat, und schauen, wie die klassischen Hadithgelehrten einen Hadith bewertet haben, wenn er einen Common Link aufwies. Durch erste Recherche zu den Begriffen madār al-ḥadīṯ, šāḏḏ, munkar, ġarīb und der Auseinandersetzung mit den Begriffen aš-šāhid und al-mutābiʿ konnte ich feststellen, dass die möglichen Gefahren, die sich aus einem einzigen Common Link ergeben könnten,  den klassischen Hadithgelehrten bekannt waren. 

Zum besseren Verständnis des Common Links soll die folgende Abbildung dienen:

 

Forschungsinteresse und Relevanz

Als ich 2013 im ersten Semester Arabistik studierte, war ich überrascht davon, als einer der Dozenten die Aussage tätigte, dass das, was Buḫārī für authentisch erklärte, auch für authentisch gehalten werden müsse. Dies, da die Hadithwissenschaft der Muslime und die Methode al-Buḫārīs eine sehr gründliche war und deshalb den Authentizitätseinstufungen vertraut werden müsse. Es war im gleichen Semester, als ich in einer Diskussion mit einem anderen Professor einen Hadith anführte und er diesen mit den Worten ablehnte, dass die ganzen Hadithe erfunden seien und damit nichts anzufangen wäre. Diese starke Diskrepanz in der Beurteilung der muslimischen Tradition zeigte mir das erste Mal, dass es verschiedene Lager und Ansätze unter westlichen Islamwissenschaftlern gibt. Die Lager reichen von den radikalen Skeptikern bis zu denen, die den klassischen Islamwissenschaften einen gewissen Respekt zollen. Einer der prominentesten Vertreter der Radikalkritik im deutschsprachigen Raum, der sogar die Existenz Muhammads (ṣ) in Frage stellte, war Sven Kalisch, der als Vorgänger Mouhanad Khorchides den Lehrstuhl zur Ausbildung islamischer Religionslehrer der BRD innehatte. Sven Kalisch machte 2008 von sich Schlagzeilen, als er verkündete, die Existenz Muhammads (ṣ) sei fragwürdig und er eher dazu tendiere, dass Muhammad (ṣ) nicht existiert hätte.

Einer der Orientalisten, der irgendwo zwischen den beiden erwähnten extremen Lagern steht, ist Joseph Schacht. Die groben historischen Fakten, wie, dass es einen Mann namens Muhammad (ṣ) gab, welcher von sich behauptete, Prophet zu sein, und der mit seinen Anhängern eine Auswanderung von Mekka nach Medina machte und dort einen Staat gründete, solche Fakten stellte Schacht nicht in Frage. Er stellte jedoch die ganze Hadithtradition in Frage und war der Meinung, dass der Fiqh in der Zeit der vier großen Imame ihre Realität zum Maßstab und nicht wirklich das Leben des Propheten (ṣ) zur Grundlage hatte. Diese Behauptung hängt bei Schacht eng mit seiner Common Link Theorie zusammen.

Die Frage nach der Authentizität und Datierbarkeit von Hadithen ist im Westen seit Schacht nicht mehr von der Berücksichtigung des Common Links zu trennen. Wissenschaftler wie Motzki und Abbott haben aufgezeigt, dass es andere Erklärungen für einen Common Link geben kann, als dass der Common Link der Urheber des Hadithes sein muss. Doch dies heißt nicht, dass die Common Link Theorie aus dem Authentizitäts-Diskurs in der orientalistischen Hadithforschung verschwunden ist. Aus diesem Grund finden wir auch in neueren Ansätzen, wie der Isnād-Cum-Matn Analyse, dass der Common Link eine zentrale Rolle spielt.

Angesichts dessen ergab sich mein Forschungsinteresse aus der Frage, wie sich die klassische Hadithwissenschaft zum Phänomen des Common Links äußert.

Entwicklung der CL-Theorie und Kritiken

Der Begriff des Common Links geht auf Joseph Schacht zurück, welcher ihn in seinem Buch The Origins of Muhammadan Jurisprudence das erste Mal gebrauchte. Dieser Begriff beschreibt die Tatsache, dass einige Überlieferungen durch einen gemeinsamen Tradenten verlaufen.

Laut Schacht soll der Common Link[1] für die Entstehung und Verbreitung des Hadithes verantwortlich sein. Da die Kette auf der ṭabaqa (Stufe) des CLs nur über einen Tradenten verfügt (dem CL), könne die Authentizität der Überlieferung vor dem CL nicht angenommen werden.

Schacht setzte sich mit frühen Fiqh-Werken auseinander und argumentierte, dass diese Werke manche in späteren Werken auftauchende Hadithe nicht enthalten. Wenn es sie zur Zeit dieser frühen Fiqh-Werke (z.B. al-Muwaṭṭaʾ) schon gegeben hätte, dann hätten die Autoren dieser Werke sie zumindest in den Themenfeldern anführen müssen, in denen sie die Rechtsmeinung des Gelehrten stützen. Da dies jedoch nicht geschehen ist, müsse davon ausgegangen werden, dass diese Hadithe zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser frühen Werke nicht vorhanden waren und erst später erfunden wurden. Diesen Zeitpunkt der Entstehung des Hadithes meint Schacht relativ genau auf den Zeitraum des CLs datieren zu können. Hierzu heißt es bei Schacht:

“Diese Ergebnisse bezüglich des Wachstums von isnāden ermöglichen es uns, uns den Fall vorzustellen, in dem eine Tradition von einem Tradenten, den wir N.N. nennen können, oder von einer Person, die seinen Namen zu einem bestimmten Zeitpunkt verwendet hat, in Umlauf gebracht wurde. Die Tradition würde normalerweise von einem oder mehreren Überlieferern übernommen, und der untere, reale Teil des isnād würde sich in mehrere Stränge verzweigen.”[2]

Nachdem Schachts Theorie in der Folge kritisiert wurde, erfuhr die Theorie eine leichte Modifikation durch G. H. A. Juynboll.

Bei Juynboll finden wir eine Ergänzung der CL-Theorie von Schacht um die Begriffe dive und partial common link. Wie oben zu sehen ist, beschreibt dive eine zu der des CLs alternative Überlieferungskette. Hierbei geht Juynboll davon aus, dass diese Alternativkette von den Hadithsammlern, wie al-Buḫārī oder at-Tirmiḏī, erfunden worden sein muss, um die Überlieferung, die über den CL geht, zu stärken. Dies, da solch eine Alternativkette einen CL entbehrt und somit keinen historischen Moment aufweise, welcher nach Juynboll nötig wäre, um die tatsächliche Authentizität der Überlieferungskette zu belegen. Der historische Moment sei beim CL relativ sicher gegeben, da es verschiedene Personen gebe, die sich in ihrer Überlieferung auf den CL beziehen und somit die Existenz des Hadithes zu diesem Zeitpunkt belegt werden könne.

Der Begriff partial beschreibt das Phänomen, dass sich Überlieferungen nach dem zentralen CL in weitere CL aufteilen lassen.

Jonathan Brown beschreibt die obige Darstellung wie folgt:

„Da es keinen historischen Weg gibt, die Existenz dieser beiden alternativen Tradierungen zu überprüfen (ihnen fehlt ein CL), müssen sie von einem Tradenten oder Sammler erfunden worden sein, um eine alternative Übertragungskette bereitzustellen, möglicherweise mit einem höheren Isnād als der von der (Überlieferung) mit dem CL. Juynboll bezeichnet diese alternativen Tradierungen als „dive“. Ein Hadith, der kein gemeinsames Glied hat, sondern nur eine Reihe von nicht verwandten „dive“-Ketten, ist historisch in keiner Weise datierbar.“[3]

Die CL-Theorie von Schacht und die Weiterverarbeitung der Theorie durch Juynboll erzeugten eine große Dynamik in der westlichen Hadithwissenschaft. Sie kann als die dominante Theorie in den darauffolgenden Jahrzehnten bezeichnet werden. Doch mit der Zeit erfuhr die Theorie einige Kritiken, die dazu führten, dass sie im Westen ihre führende Rolle verlor. Ausschlaggebend dafür war der Umstand, dass durch die Erschließung von Manuskripten, wie dem muṣannaf von ʿAbd ar-Razzāq, neues Quellenmaterial gesichtet werden konnte und dass zudem neue Erkenntnisse über die Zeit des 8. Jahrhunderts in Erfahrung gebracht werden konnten.

So war beispielsweise David Power einer der Befürworter der ‘large-scale‘ Identifikation, welche nach seiner Ansicht frühere CLs erkennbar machen würde. Mit anderen Worten sollte die Nutzung eines größeren Quellenmaterials die von Schacht und Juynboll bestimmten CLs für nichtig machen und zu der Erkenntnis führen, dass CLs oftmals schon früher zu Stande kamen.[4]

Eine weitere Kritik erfuhr die CL-Theorie durch Nabia Abbott, welche aufzeigen konnte, dass kostengünstiges Papier erst gegen Ende des 8. Jhd. in den Mittleren Osten verfügbar war und damit das Phänomen des CLs überbewertet und die Behauptung der Urheberschaft eines Hadithes durch einen CL zu voreilig war. Das Wissen über die Verfügbarkeit kostengünstigen Papiers Ende des 8. Jhd. konnte Aufschluss darüber geben, wieso es zu der Zeit nach den tābiʿ at-tābiʿīn zu einer rasanten Verbreitung der Hadithe kam. Kostengünstiges Papier führte zu dieser Zeit dazu, dass nun Hadithe mit ihren unterschiedlichen Wegen notiert werden konnten. Wohingegen sich der Gelehrte zuvor noch auf die stärksten Überlieferungswege beschränken musste, um sie zu notieren, hatte er zum Ende des 8. Jhd. genug günstiges Papier zur Hand, um alle ihm bekannten Überlieferungswege niederzuschreiben, einschließlich derer, die er selbst als schwache Überlieferungswege sah. Diesen Umstand beschreibt Brown mit den Worten: “Al-Zuhrīs Bibliothek könnte in einer Tasche getragen werden, während für die von Ibn Hanbal 12,5 Kamele notwendig wären und für die von al-Wāqidī (gest. 207/822) 600 hundert Kästen.”[5]

Doch den entscheidenden Stoß erfuhr die CL-Theorie und die mit ihr in Verbindung stehenden Annahmen durch den deutschen Hadithwissenschaftler Harald Motzki.

Motzki warf Schacht vor, mit ‚e silentio Argumenten zu arbeiten, und zwar in dem Moment, in dem er aus dem Umstand, dass in den älteren Fiqh-Werken bestimmte Hadithe nicht vorkamen, ableitet, sie hätten zu dem Zeitpunkt nicht existiert.[6] Es gebe unterschiedliche Gründe, warum ein Hadith von einem Gelehrten in einem Fiqh-Werk nicht erwähnt wird, z.B. weil der Hadith existierte, dem Autor aber nicht bekannt war. Ganz nach der arabischen Redewendung: ʿadam al-ʿilm b-iššayʾ laysa ʿilmān b-ilʿadam („Über die Existenz einer Sache keine Kenntnis zu besitzen, ist nicht gleichbedeutend mit der Kenntnis ihres Nichtvorhandenseins.“).

Motzki fiel auch dadurch auf, dass er bestimmte von Schacht und Juynboll angeführte Hadithe mittels einer ‚large-scale‘ Analyse[7] auf den Prüfstand stellte, und aufzeigen konnte, dass diese Hadithe oftmals einen früheren CL aufweisen. Teilweise sogar einen, der bis auf den Gefährten zurückgeht. Motzki kam durch seine Untersuchungen dazu, dass die klassische Hadithwissenschaft neu bewertet werden müsse und die zuvor ergangene Abwertung ihrer Methodik nicht gerechtfertigt sei.

Brown beschreibt dies folgendermaßen: “In a sense, Motzki is the first Western scholar to treat hadiths with the same ‚respect’ as Muslim hadith masters did.”[8]

Ein weiterer Orientalist, welcher die Darstellung einer staatlich organisierten Verfälschung der Hadithe – wie dies von Goldziher ausgesprochen und von Schacht und Juynboll zumindest angedeutet wurde –ablehnte und es als verschwörungstheoretisch ansah, war der US-Amerikaner Fred Donner. Dies formulierte er wie folgt:

„Es ist unvorstellbar, dass die geteilte und dezentralisierte, frühmuslimische Gemeinschaft eine umfassende ‚Redaktion der [lslamischen] Tradition als Ganzes in eine einheitliche Form bringen könnte, ohne reichlich historische Beweise zu hinterlassen.”[9]

Madār und andere relevante Begriffe aus der klassischen Hadithwissenschaft

Wir werden im Folgenden zeigen, dass die klassische Hadithwissenschaft sich durchaus im Klaren war über die möglichen Risiken eines CLs und solcherlei Phänomene stets in ihrer Hadithkritik berücksichtigt hat. Um dies zu belegen, möchte ich den Blick auf einen Aspekt in der Hadithwissenschaft richten, den ich als horizontale Ebene der Hadithkritik bezeichne. In diesem Kapitel möchte ich das falsche Verständnis beseitigen, dass die klassische Hadithwissenschaft auf blindem Vertrauen gegenüber den Aussagen irgendwelcher Personen beruht. Es soll aufgezeigt werden, dass sich der Blick der Hadithkritik nicht nur auf die vertikale Ebene richtet, indem die einzelnen Tradenten in der Kette betrachtet werden, sondern in der Bewertung der Tradenten und damit auch in der Bewertung des Hadithes als Ganzes, den Blick stets auch auf die horizontale Ebene richteten, in dem sie die Aussagen des einzelnen Tradenten mit anderen Tradenten aus seiner ṭabaqa (Stufe/Generation) verglichen. Die Hadithkritiker hatten somit das ganze Bild vor Augen und nicht nur ein einzelnes Mosaikstück, denn nur so lässt sich vernünftige Hadithkritik betreiben. Mit anderen Worten wurde Hadithkritik so verstanden, dass die Aussagen der Tradenten von ṭabaqa zu ṭabaqa mit den Aussagen anderer Tradenten verglichen wurden. Erfand also ein Tradent einen Hadith, so konnte dies nachgewiesen werden, in dem man seine Aussage mit denen anderer Tradenten aus seiner ṭabaqa verglich. Viel ein Tradent oftmals auf, weil er keine Bestätigung auf seiner tabaqa erfuhr oder gar den anderen widersprechende Überlieferungen tätigte, so disqualifizierte er sich dadurch gänzlich bei den Hadithgelehrten.

Schacht und Juynboll waren sich dessen bewusst, dass klassische Hadithgelehrte das CL-Phänomen kannten, waren aber der Meinung, dass sie es nicht in der richtigen Weise interpretierten.[10]

Tatsächlich lässt sich feststellen, dass die klassischen Hadithgelehrten dem CL Beachtung schenkten und ihm die Bezeichnung madār al-ḥadīṯ gaben. Madār al-ḥadīṯ kann als der Dreh- und Angelpunkt des Hadithes übersetzt werden. Die Erwähnung des madārs hatte für sie insofern Relevanz, als dass die Diskussion zwischen den Gelehrten auf den wesentlichsten Tradenten im Hadith abgekürzt werden konnte. Gingen verschiedene Überlieferungswege über einen gleichen Tradenten (CL), so begannen sie damit, diesen madār zu evaluieren. War er schwach, so konnten sie sich die Evaluation der anderen in der Kette vorkommenden Tradenten ersparen. Eine typische Formulierung lautet: „Ḥadīṯu kaḏā madāruhu ʿalā fulān wa huwa ḍaʿīf“ (Der Hadith so und so hat den madār über Person so und so und er ist schwach.“. Auch schenkten sie dem Umstand Beachtung, wenn bei einem Hadith eine Person alleinsteht, und sie schauten genau, wer diese Person ist. Sie bezeichneten diese Art von Hadith als ǧarīb, was so viel bedeutet wie fremd zu sein. Allein dieser Umstand zeigt, dass sie diesem Hadith eine befremdende Eigenschaft zusprachen, die es galt, genauer zu untersuchen. Hierbei handelten sie nach dem Prinzip: „Eine Kette ist nur so stark, wie ihr schwächstes Glied“. Doch im Gegensatz zu Schacht und Juynboll war dieser infirād (Alleinstellungsmerkmal) kein absolutes Ausschlusskriterium. Denn es konnte sein, dass dieser munfarid sich durch außergewöhnliche Zuverlässigkeit und etliche Überlieferungen bewährt hat, in denen er für keine, bis seltene Fehler Bekanntheit bei den Gelehrten erlangt hatte. In solchen Fällen wurde der Hadith ǧarīb ṣaḥīḥ genannt und akzeptiert, vorausgesetzt er erfüllte die sonstigen Kriterien des ṣaḥīḥ Hadithes. Ein Beispiel hierfür wäre az-Zuhrī, welcher bei einigen Hadithen als madār vorkommt. Ibn Raǧab beschreibt dies wie folgt:

“Die meisten ersten Hadithgelehrten sagen zum Hadith, wenn einer in der Kette allein steht (Iḏā tafarrada bihi wāḥid), auch wenn die ṯiqāt nichts Widersprechendes überliefern, dass dieser nicht verfolgt wird („Innahu lā yutābaʿ ʿalayh“). Dabei machen sie dies zum Gegenstand des Mangels in der Kette (ʿilla), außer wenn dieser (alleinstehende) Überlieferer für seine vielen wortgetreuen Überlieferungen und seine Zuverlässigkeit bekannt geworden ist, sowie az-Zuhrī und seines Gleichen. Manchmal kommt es jedoch auch bei ihnen vor, dass ihre Überlieferungen deswegen abgelehnt werden. Sie betrachten dabei jeden Hadith gesondert und wenden dabei keine allgemeine Regel an.”[11]

Dies soll bedeuten, dass die Hadithgelehrten in der Bewertung des einzelnen Hadithes stets den Blick auf der horizontalen Ebene hatten und nicht nur auf der vertikalen, wie es viele glauben, die wenig Kenntnis über die klassische Hadithwissenschaft haben. Mit anderen Worten, ein Tradent wurde in seiner Überlieferung stets mit den Überlieferungen verglichen, welche von seinen Zeitgenossen überliefert wurden. Diese Tatsache lässt sich schon an der klassischen Definition des ṣaḥīḥ Hadithes erkennen. Diese lautet wie folgt: “Ein Hadith, bei dem die Überlieferungskette lückenlose Vertrauenswürdige (ʿudūl) und Merkfähige (ḍābitūn) beinhaltet, vom Anfang der Kette, bis zum Ende, ohne Abweichung (šuḏūḏ) und ohne Makel ( ʿilla).[12]

Der letzte Teil der Definition trägt genau dem Rechnung, dass ein Hadith von anderen Tradenten anders überliefert worden sein kann, oder dass durch andere Merkmale ein Mangel ersichtlich wird, wie beispielsweise jenes im oberen Zitat von Ibn Raǧab Erwähnte. Bereits aš- Šāfiʿī hob dies hervor, als er in einer Diskussion mit jemandem, der die Verpflichtung des Handelns nach den Hadithen in Frage stellte, erwiderte, indem er ihm die Vorzüge der Hadithkritik zu der Zeugenaussage gegenüberstellte. Der Vergleich mit der Zeugenaussage wurde deshalb von aš- Šāfiʿī angeführt, da sein Kontrahent die Verpflichtung des Handelns nach Zeugenaussagen nicht abstritt (sie geht doch schließlich bereits aus dem Koran hervor) und aš-Šāfiʿī dies somit als gemeinsame Ausgangsbasis der Diskussion aufgreifen konnte. So heißt es in aš- Šāfiʿīs al-ʾUm wie folgt:

„Du hast dies also auf Basis der augenscheinlichen Ehrlichkeit der zwei Zeugen akzeptiert, wohlwissend, dass nur Allah das Verborgene kennt. Was wir nun vom Überlieferer fordern, geht über das hinaus, was wir vom Zeugen fordern. So erlauben wir die Zeugenschaft von Menschen, von denen wir keinen Hadith akzeptieren würden. Auch können wir Hinweise auf die Ehrlichkeit und Fehlerhaftigkeit des Überlieferers durch Beteiligte an dieser Überlieferung erkennen und durch den Koran und durch die Sunna. In all dem liegen also Hinweise, welche uns in der Zeugenschaft nicht vorliegen.“ [13]

Wir können also festhalten, dass es eine Auffälligkeit darstellte und zu den wichtigsten Merkmalen für die Abwägung eines Hadithes gehörte, wenn ein Hadith tafarrud (Alleinstellung) aufwies. Al-Buḫarī war bspw. einer derjenigen, die mit diesem Merkmal vielen Tradenten einen Mangel (iʿlla) attestierte. So findet sich in seinem Buch at-Tārīḫ al-kabīr die Formulierung oftmals in Bezug auf einzelne Tradenten: „er findet (in der Überlieferung) keine Bestätigung“ („lā yutābaʿ ʿalayh“)[14].

Mutābaʿa

Die Suche nach Bestätigungen für die Überlieferung eines Tradenten wird bei den klassischen Hadithgelehrten als mutābaʿa (sinngemäß: Bestätigung) bezeichnet.

Die Überlieferung des Tradenten wird mit der anderer Überlieferer auf der gleichen Stufe verglichen. Das heißt, man schaut, ob der Tradent in seiner Überlieferung durch die gleiche Überlieferung von einem anderen Tradenten bestätigt wird. Stellen wir uns beispielsweise vor, es handele sich bei dem Tradenten, den wir prüfen wollen, um einen Schüler, der von seinem Lehrer etwas überliefert. Dann würde die mutābaʿa hier dem Blick auf die Überlieferung seiner Mitschüler gelten. Überliefern sie das Gleiche, so hat der Tradent in seiner Überlieferung eine Bestätigung erfahren, und man würde die Formulierung „lahu mutābiʿ“ nutzen (er besitzt eine Bestätigung). Findet sich eine Bestätigung der Überlieferung durch einen anderen Tradenten, so ist für die Stufe der Kette also ein mutābiʿ gefunden und die bestätigte Aussage für diesen Teil der Kette gestärkt. So verfährt man weiter bis zum Propheten (ṣ). Man kann sich wohl denken, dass ein Tradent, der oftmals solcherlei Bestätigung erfahren hat, Vertrauen bei den Gelehrten genießt.

Eine Bestätigung der Überlieferung kann auch über einen šāhid (wörtl.: Zeuge) erfolgen. Als šāhid wird die Überlieferung betrachtet, die den gleichen Wortlaut oder zumindest den gleichen Inhalt eines Hadithes über den Überlieferungsweg eines anderen Gefährten bestätigt.

Zur mutābaʿa werden auch Personen herangezogen, die als schwache Überlieferer gelten. Also Personen, die nicht die Voraussetzungen erfüllen, um in einer ṣaḥīḥ-Kette aufzutauchen. Sie können jedoch vertrauenswürdig genug sein, um einen anderen Hadith zu stärken. Hierbei ist nicht die Rede von Personen, die als sehr schwach kategorisiert worden sind.

Ibn aṣ-Ṣalāḥ schrieb dazu Folgendes:

„Wisse, dass zur Angelegenheit der mutabaʿa und des istišhāds auch die Überlieferung desjenigen herangezogen werden kann mit dem alleinstehend sonst nicht argumentiert werden würde. Nein, der vielmehr sogar zu den duʿafāʾ (schwachen Überlieferern) gezählt werden würde.“[15]

Aus diesem Grund verwendete al-Dāraquṭnī u.a. die Formulierung: „min al-ḍuʿafāʾ, fulān yuʿtabar bihi, wa fulān lā yuʿtabar bihi“ („die Person so und so gehört zu den Schwachen, welcher zur Stärkung berücksichtigt wird und Person so und so wird nicht zur Stärkung berücksichtigt“)[16].

Alleinstellungsmerkmal gilt als Warnhinweis, ist jedoch kein Ausschlusskriterium

Es kann also gesagt werden, dass die klassischen Hadithgelehrten einen Blick für Alleinstellungen im Hadith hatten und seine verschiedenen Erscheinungsformen durch unterschiedlichste Termini kategorisiert hatten. Es kann auch gesagt werden, dass diese Alleinstellung ein Grund zur genauen Betrachtung des Tradenten und seiner Überlieferung und für sie nicht selten auch ein Hinweis zur Fälschung des Hadithes war. Anders als Schacht und Juynboll gingen sie jedoch differenzierter vor, hatten einen viel größeren Blick über den Quellenbestand und hielten sich von ungerechtfertigten Pauschalisierungen fern.

Wenn ein Hadith trotz Alleinstellungsmerkmal akzeptiert worden war, dann hatte dies unterschiedlichste Gründe, doch der wesentlichste ist, dass die Tradenten, die alleine in der Kette des Hadithes standen, sich durch etliche anderen Hadithe bewährt hatten und somit zurecht einen Vertrauensvorschuss genossen.

Diese Differenziertheit bei der Beurteilung finden wir in folgenden Worten aḏ-Ḏahabīs:

„Betrachte als aller erstes die Gefährten des Propheten (ṣ), die jungen unter ihnen und die älteren, du findest keinen von ihnen, der nicht mit (der Überlieferung) einer Sunna alleine steht. Hierfür wird die Formulierung verwendet: „dieser Hadith wird nicht bestätigt“ („haḏā al-ḥadīṯ lā yutābaʿ ʿalayh“). Das Gleiche gilt für die tābiʿūn, jeder von ihnen besitzt etwas an Wissen, was bei dem anderen nicht vorhanden ist […] Die Alleinstellung (tafarrud) des Vertrauenswürdigen (ṯiqa), der auch genau ist (mutqin), wird als ṣaḥīḥ ǧarīb bezeichnet. Wenn ein Tradent der Stufe B (ṣadūq) oder einer der Stufen darunter alleine steht, so führt dies zu der Bezeichnung „abzulehnen“ (munkar) und wenn ein Tradent oftmals Hadithe überliefert, die keine Bestätigung finden, weder im Wortlaut, noch in der Bedeutung, so führt das dazu, dass er als gänzlich abgelehnt bewertet wird (matrūk al-ḥadīṯ).“ Anmerkung: matrūk al-ḥadīṯ bedeutet, dass seine Überlieferungen nicht einmal dazu verwendet werden können andere Überlieferungen durch mutātabaʿa bestätigen zu lassen.[17]

Wie wir sehen konnten, gingen die klassischen Hadithkritiker bei der Bewertung von Alleinstellungen sehr differenziert und bedacht vor und berücksichtigten dabei die unterschiedlichsten Gründe, die es zu solch einem Alleinstellungsmerkmal geben konnte. Jede Alleinstellung jedoch als alleiniges Ausschlusskriterium zu verwenden würde dem vernünftigen Denken entbehren und unserem Verhalten im Alltag widersprechen. Dies zeigt Muṣṭafā al-Aʿẓamī pointiert in seiner Antwort auf Schachts These mit folgenden Worten:

„Um ein modernes Beispiel anzuführen, wozu Schachts Annahme hinführen würde, sei auf den Nachrichtenreporter hingewiesen, welcher Informationen aus unterschiedlichen Quellen gewinnt und dann in einer Zeitung veröffentlicht. Nach Schacht müsste dieser Nachrichtenreporter bezichtigt werden, sich diese Nachricht ausgedacht zu haben, da sich tausende von Lesern nur auf ihn als Quelle beziehen könnten.“[18]

Zu ihrer Differenziertheit in der Urteilsfindung gehört auch die Frage nach dem Inhalt des Überlieferten. Handelte es sich bei dem Überlieferten um normativen Inhalt, so waren die Hadithgelehrten in der Regel strenger, als wenn es um die Aneignung guter Eigenschaften und dergleichen ging. So wird beispielsweise von Aḥmad b. Ḥanbal folgende Aussage berichtet:

Wenn wir vom Propheten (ṣ) in Angelegenheiten von ḥarām und ḥalāl und in Angelegenheiten der sunan und der Gesetze überliefern, so sind wir streng bzgl. der Überlieferungsketten. Wenn wir jedoch über den Propheten (ṣ) in Angelegenheiten der guten Tugend und Angelegenheiten, die nicht normgebend sind oder Normen aufheben, überliefern, so gehen wir lockerer mit den Überlieferungsketten um.”[19]

Des Weiteren konnte der Kern des Inhaltes eines Hadithes durch andere Hadithe bestätigt worden sein, so dass die Überlieferung eines Hadithes kein Problem darstellt, auch wenn er nach den später gesetzten Kategorien als ġarīb eingestuft worden ist. Ein Beispiel hierfür ist der Hadith, mit welchem Al-Buḫarī seinen al-Ǧāmiʿ aṣ-ṣaḥīḥ eröffnet. Es ist der Hadith: „Die Taten sind gemäß den Absichten.“ Dieser Hadith wird von keinem überliefert außer von ʿUmar, von dem wiederum keiner überliefert außer ʿAlqama, von dem keiner überliefert außer Muḥammad b. Ibrāhīm, von dem keiner überliefert außer Yaḥya b. Saʿīd. Danach findet dieser Hadith eine enorme Verbreitung. In den Worten Schachts würde Yaḥya also den CL darstellen, oder in den Worten der klassischen Hadithwissenschaft den madār. Um aufzuzeigen, dass dies dem Hadith jedoch nicht schadet, führt Ibn Ḥaǧar einige Hadithe an, die den Kern des Inhaltes bestätigen:

„In seiner Bedeutung sind etliche authentische Hadithe ergangen, die allgemein die Absicht thematisieren. So z.B. der Hadith von ʿĀʾiša und ʿUm Salama bei Muslim: „sie werden nach ihren Absichten auferweckt“, und der Hadith von Ibn ʿAbbās: „Nein, vielmehr ǧihād und Absicht“, und der Hadith von Abū Mūsā: „Wer kämpft, damit das Wort Allahs das höchste ist, so ist dies auf dem Wege Allahs“, beide bei al-Buḫarī und Muslim tradiert […] und noch viele weitere (Hadithe), die zu viele wären, um sie alle zu erfassen.“[20]

Auch der bereits erwähnte Umstand, dass der einfach überlieferte Hadith als ġarīb (wörtl.: fremd) bezeichnet wurde, zeigt, dass sie ihm weniger vertrauen beigemessen haben als dem mašhūr (wörtl.: bekannt).

Deutlich wird dies, wenn wir uns einige Aussagen der altvorderen Hadithgelehrten anschauen. So heißt es bei Ibrāhīm an-Naḫāʿī: „Sie haben die ġarīb Hadithe und die fremde Rede gehasst“ (kānū yakrahūna ġarīb al-ḥadīṯi wa ġarīb al-kalām“)[21]

Und von Aḥmad bin Ḥanbal heißt es: „Schreibt diese ġarīb Hadithe nicht auf, denn sie sind manākiyr und die meisten von ihnen werden von schwachen Tradenten überliefert.“ („la taktubū haḏihi al-Aḥādīṯ al-Ġarāʾib, faʾinahā manākīr, wa ʿamatuhā ʿan al-Ḍuʿafāʾ“)[22]

Abū Dāwūd schreibt in seiner Schrift an die Bewohner Mekkas (Risāla ʾilā ʾahl makka), in welcher er seine Methodik bei der Sammlung seines Kitāb as-sunnan darlegt, Folgendes:

„Die Hadithe, die ich in dem Werk Kitāb as-sunnan aufgeführt habe, sind in ihrer Mehrheit mašāhīr (Sg. mašhūr) und sie sind bei jedem, der etwas von den Hadithen aufgeschrieben hat, auch wenn nicht jeder es vermag sie zu unterscheiden. Was sie auszeichnet, ist, dass sie mašāhīr sind, denn es sollte nicht mit dem ġarīb Hadith argumentiert werden, auch wenn er von der Überlieferung Māliks oder Yaḥya b. Saʿiyds und den Vertrauenswürdigen unter den führenden des Wissens ist. Wenn nun ein Mann mit einem ġarīb Hadith argumentiert, so findest du den, der hierin die Möglichkeit hat, diesen Hadith zu kritisieren, und es sollte nicht mit einem Hadith argumentiert werden, auch wenn dies vorkommt, wenn der Hadith ġarīb und šaḏḏ ist. Was jedoch den mašhūr Hadith anbelangt, der zudem eine nicht unterbrochene Kette aufweist und ṣaḥīḥ ist, so kann ihn dir keiner ablehnen.“[23]

Fazit

Wir haben gesehen, dass die klassischen Hadithgelehrten das Phänomen des CLs gekannt und berücksichtigt haben. Im Vergleich zu Schacht und Juynboll war dies für sie jedoch kein Ausschlusskriterium.

Dennoch ergibt sich aus den zuletzt erwähnten Zitaten der altvorderen Hadithgelehrten die Frage, wie sie sich so deutlich gegen ġarīb Hadithe aussprechen konnten und dennoch sämtliche Hadithwerke einen nicht unwesentlichen Teil an ġarīb Hadithen im Sinne der später bekanntgewordenen ġarīb Definition[24] aufweisen, heißt es doch in den erwähnten Zitaten, dass der ġarīb Hadith zu meiden sei? Darüber hinaus sind einige dieser Hadithe auch welche, die über einen madār (CL) führen.

Ein Ansatz zur Auflösung dieses vermeintlichen Widerspruches wäre der von Muḥammad Muǧīr al-Ḫaṭīb, ein zeitgenössischer, syrischer Hadithgelehrter. Sein Ansatz besagt, dass die altvorderen Hadithgelehrten den Hadith erst als ġarīb betrachteten, wenn er nach den ersten drei Stufen[25] der Hadithketten eine Alleinstellung aufwies. So sahen wir beispielsweise das Zitat von Abū Dāwūd, in welchem er seine Vorgehensweise bei der Sammlung seiner Hadithe beschrieb. Wie al-Ḫaṭīb also aufgezeigt hat, unterschieden die altvorderen Hadithgelehrten in ihrer Bezeichnung des ġarīb Hadithes sich von den Hadithgelehrten der Postmoderne. Laut al-Ḫaṭīb wurde ein Hadith bei den altvorderen Hadithgelehrten erst als ġarīb betrachtet, wenn er auf der ṭabaqa (Stufe) von Mālik b. Anas eine infirād (Alleinstellung) aufwies. Ab dieser Stufe wurde die Alleinstellung eines Tradenten in seiner Überlieferung bei den Hadithgelehrten als ġarīb (befremdlich) angesehen und wurde damit zu einem Makel.[26] Was jedoch die Tradenten auf den Stufen zuvor, wie z.B. az-Zuhrī, betrifft, so kann davon ausgegangen werden, dass aufgrund der zuvor aufgeführten Gründe alleinstehende Tradenten akzeptiert worden sind, solange sie sich bewährt hatten. Selbst wenn sie im Sinne des CLs den Dreh- und Angelpunkt der verschiedenen Überlieferungswege darstellten. Eine Einschätzung, wie groß dieser Anteil ist, bedarf einer genaueren Erforschung. Wenn wir jedoch annehmen, dass es einen nicht unbedeutenden Teil von Überlieferungen gibt, die auf den drei ersten Stufen über einen CL führen, so haben wir plausible Argumente genannt, warum dies der Fall ist, und warum deshalb nicht pauschal auf die Urheberschaft des Hadithes durch den CL zu schließen ist. Auch haben wir im Kapitel „Entwicklung der CL Theorie und Kritiken“ aufgezeigt, dass es vorkommen kann, dass ein CL angenommen wird, dieser sich jedoch durch die Untersuchung anderer Quellen nicht als CL herausstellt. Wichtig für das Verständnis dieses Zeitraumes der ersten drei Stufen ist auch die Tatsache, dass das Zeugnis über einen Tradenten als ṯiqa (vertrauenswürdig) auf eine mehrfache Prüfung dieses Tradenten zurückgeht. Das heißt, dass Tradenten wie az-Zuhrī sich durchgesetzt haben, da sich ihre Überlieferungen durch mehrfachen Vergleich mit den Überlieferungen anderer Tradenten bestätigt haben. Somit genossen sie einen Vertrauensvorsprung, der dazu führte, dass von ihnen dann auch Überlieferungen akzeptiert wurden, die sie allein überlieferten. Wie leichtfertig oder streng sie dabei vorgingen war auch von dem Inhalt des überlieferten Materials abhängig. Handelte es sich beispielsweise um eine Überlieferung, die vom Kern des Inhaltes Bestätigung durch Verse im Koran oder in der restlichen Sunna erfährt, kann davon ausgegangen werden, dass der Filter der Gelehrten weitmaschiger war.

Die klassischen Hadithgelehrten hatten sich ein eigenes Wissenschaftsnetzwerk aufgebaut, innerhalb dessen man sich kannte und eine gemeinsame Fachsprache verwendete. Sie haben eine Hadithkritik entwickelt, bei der jeder, der Hadithe überlieferte, kritisch unter die Lupe genommen wurde, und dabei keiner verschont blieb, nicht einmal eigene Familienangehörige. So wurde ʿAlī b. al-Madīnī gefragt, wie er seinen Vater als Tradenten bewertet und er antwortete: „Fragt einen anderen.“ Sie fragten erneut, daraufhin antwortete er: „Es geht um die Religion, er ist ḍaʿīf!“ Abū Dawūd wurde über seinen Sohn gefragt und er antwortete: „Mein Sohn Abdullah ist ein Lügner! Saʿīd b. Abī ʾUnaysa wurde nach seinem Bruder gefragt und er antwortete: „Nehmt nicht von meinem Bruder Yaḥyā, dem die Lüge nachgesagt wird.“[27]

Gleichzeitig hatten sich diese Gelehrten intensiv mit dem Phänomen der Fälschung beschäftigt und reihenweise Bücher über die Namen ‚der Lügner‘ geschrieben, in denen sie sich auch mit den intrinsischen Ursachen für die Lüge eines Lügners auseinandergesetzt haben.

Besonders die Behauptung Juynbolls, es habe sich bei den dive isnāden (šawāhid) um Hadithe gehandelt, die von Hadithsammlern erfunden wurden, entbehrt eines Beleges, wie diese Fälschung vonstattengegangen sein soll. Angesichts des Netzwerkes der Hadithgelehrten – welches ohne staatliche Einflussnahme funktionierte – und ihrer akribischen Arbeitsweise, ist diese These nicht haltbar.

Literatur

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Endnoten

[1] Nachfolgend mit CL abgekürzt.

[2] Schacht, Joseph: The origins of Muhammadan Jurisprudence, Clarendon Press, 1979., S. 171.

Originalwortlaut: “These results regarding the growth of isnāds enable us to envisage the case in which a tradition was put into circulation by a traditionist whom we may call N.N., or by a person who used his name, at a certain time. The tradition would normally be taken over by one or several transmitters, and the lower, real part of the isnād would branch out into several strands.”, übersetzt vom Autor.

[3] Brown, Jonathan A. C.: Hadith: Muhammad’s Legacy in the Medieval and Modern World, Oneworld Publications, 2018, S. 215, Originalwortlaut: “Since there is no historical way to verify the existence of these two alternative transmissions (they lack a Common Link), they must have been forged by a transmitter or collector to provide an alternative chain of transmission, perhaps with a more elevated isnād to that of the Common Link. Juynboll terms these alternative transmissions ‚Diving‘ isnāds. A hadith that has no Common Link, only a set of unrelated ‚diving‘ chains, is not historically datable in any sense.”, übersetzt vom Autor.

[4] Ebd., S. 260.

[5] Ebd., S. 253, Originalwortlaut: “Al-Zuhrī’s library could be carried in one bag, while Ibn Hanbal’s was twelve and a half camel loads, and al-Waqidi’s (d.207/822) six hundred boxes.”, übersetzt vom Autor.

[6] Ebd., S. 261.

[7] Im Besonderen durch zur Hilfenahme des muṣannafs von ʿAbd ar-Razzāq.

[8] Ebd., S. 226.

[9] Ebd., S. 259 f.

Originalwortlaut: “It is inconceivable that the divided and decentralized early Muslim community could somehow orchestrate a ‘comprehensive’ redaction of the [lslamic] tradition as a whole into a unified form without leaving ample historical evidence.”, übersetzt vom Autor.

[10] Vgl.: Ozkan, Halit: The common link and its relation to the madār, The Ḥadīth: transmission, terminology, and the issue of dating, Routledge, 2010, S. 49.

[11] Muḥammad Muǧīr Al-Ḫaṭīb: Maʿrifat madār al-isnād. Magisterarbeit, Dār Al-maymān, Band 1, S. 421.

[12] Maḥmūd aṭ-Ṭaḥān: Taysīr muṣṭalaḥ al-ḥadīṯ, Maktaba al-maʿārif li-n-Našr wa at-tawzīyʿ, 2011, S.33, übersetzt vom Autor.

[13] Sibāʻīy, Muṣṭafā: As-Sunna wa makānatuhā min at-tašrīʿ al-islamī, Dar al-Salam, 2010, S. 144, übersetzt vom Autor.

[14] Islamweb – ṭabāʿa maqāl. Qarāʾin al-tarǧīḥ ʿinda ʿulamāʾ al-ḥadī.www.islamweb.net/media/print.php?id=204397. Zugriff am 25. Februar 2020.

[15] Islamweb – ṭabāʿa maqāl. Qarāʾin al-tarǧiyḥ ʿind ʿulamāʾ al-ḥadī, www.islamweb.net/media/print.php?id=204397. Zugriff am 25. Februar 2020.

Originalwortlaut: „اعلم أنه قد يدخل في باب المتابعة والاستشهاد رواية من لا يحتج بحديثه وحده، بل يكون معدوداً في الضعفاء“, übersetzt vom Autor.

[16] Ebd.

[17] Aʿẓamī, Muḥammad Muṣṭafā al: On Schacht’s Origins of Muhammadan Jurisprudence, Oxford Centre for Islamic Studies; The Islamic Texts, 1996, S. 200 aus Mīzan al- iʿtidāl, übersetzt vom Autor.

[18] Ebd., S. 200.

Originalwortlaut: “To take a modern example of where Schacht’s approach would lead if followed through rigorously: a news reporter who gathers information from many sources and then publishes his findings in a newspaper would be considered to have fabricated the news items because thousands of readers would be able to refer only to him as their source.”, übersetzt vom Autor.

[19] Māhir Yāsīn al-Faḥl. Al- Kifāya fī maʿrifat uṣūl ʿilm al- Riwāya. Von Al- Ḫaṭīb al- Baġdādī, Dār Ibn al-ǧawziy; al- Dammām, 2012. Band 1, S. 327, Originalwortlaut: „أَحْمَدَ بْنَ حَنْبَلٍ، يَقُولُ: إِذَا رَوَيْنَا عَنْ رَسُولِ اللَّهِ صَلَّى اللَّهُ عَلَيْهِ وَسَلَّمَّ فِي الْحَلاَلِ وَالْحَرَامِ وَالسُّنَنِ وَالأَحْكَامِ شَدَّدْنَا فِي الأَسَانِيدِ، وَإِذَا رَوَيْنَا عَنِ النَّبِيِّ صَلَّى اللَّهُ عَلَيْهِ وَسَلَّمَّ فِي فَضَائِلِ الأَعْمَالِ وَمَا لاَ يَضَعُ حُكْمًا وَلاَ يَرْفَعُهُ تَسَاهَلْنَا فِي الأَسَانِيدِ.”, übersetzt vom Autor.

[20] Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī: Fatḥ al-Bārī šarḥ ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Dār al-maʿrifa, 1960. 13 Bd. 1., S. 11, übersetzt vom Autor.

[21] Muḥammad b. ʿAlī al-Walawiy: Quratu ʿayn al-muḥtaǧ fi šarḥ muqadimatu ṣaḥīḥ muslim bin al-Ḥaǧāǧ, Dār Ibn al-ǧawziy, 2003, S. 239, Band 1., Originalwortlaut:كانوا يكرهون غريب الحديث ، وغريب الكلام”, übersetzt vom Autor.

[22] Muḥammad b. ʿAlī al-Walawiy: Quratu ʿayn al-muḥtaǧ fi šarḥ muqadimatu ṣaḥīḥ muslim bin al-Ḥaǧāǧ, Dār Ibn al-ǧawziy, 2003, S. 210, Band 2., Originalwortlaut: „لا تكتبوا هذه الأحاديث الغرائب فإنها مناكير، وعامّتها عن الضعفاء“, übersetzt vom Autor.

[23] Muḥammad Muǧīr Al-Ḫaṭīb: Maʿrifat Madār Al-Isnād. Magisterarbeit, Dār Al-maymān, S. 23, Band 2, übersetzt vom Autor.

[24] Der ġarīb ist in der Postmodernen Hadithliteratur als der Hadith definiert, bei dem mindestens ein Glied der Überlieferungskette nur einen Tradenten aufweist.

[25] Die ersten drei Stufen sollen die ersten drei Generationen beschreiben und nicht die ersten drei Glieder einer Kette, da diese auch in einer einzigen Stufe bestehen können, wenn die Kette nicht aus dem kürzesten Weg besteht (ʿUluw as-sanad).

[26] Auch wenn es hier Ausnahmen gibt und Überlieferungen, die bspw. nur von Imam Mālik überliefert werden, existieren.

[27] As-Saḫāwī: Fatḥ al-Muġīṯ, Maktabat as-Sunnah, 2003, Bd. 4, S. 356.

 

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