Das Pflegen der Verwandtschaftsbande aus islamischer Sicht

Jun 15, 2022Artikel

Das Pflegen der Verwandtschaftsbande

Der folgende Beitrag behandelt die Thematik des Pflegens der Verwandtschaftsbande (die ṣila ar-raḥim) sowie die Beweisführung für die damit verbundene Pflicht für den Muslim und die Vorzüglichkeit dieser Praxis. Zum Einstieg wird die Herkunft des arabischen Wortes für die Verwandtschaft erklärt. Es folgen Verse aus dem Koran sowie Hadithe und Aussagen wichtiger Gelehrter, welche auf die Belohnung und die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung der Verwandtschaftsbande hinweisen. Erläutert wird ebenso, für welche Gruppe der Verwandten dies von Bedeutung ist und welche Methoden im Umgang mit ihnen existieren. Dabei wird auch speziell auf den Umgang mit nichtmuslimischen Verwandten eingegangen.

Bedeutung des Wortes ‚ar-raḥim‘

Das Wort ‚ar-raḥim‘ ist von den Buchstaben (rāʾ, ḥāʾ, mīm- ر ح م) abgeleitet und bedeutet sprachlich ‚die Gebärmutter‘, also der Ort, an dem der Fötus im Bauch gebildet wird.[1]  Andere Bedeutungen von ‚ar-raḥim‘ sind ‚die Freundlichkeit‘, ‚das Mitgefühl‘ und ‚die Zärtlichkeit‘ sowie ‚die Verwandtschaftsbeziehung‘. Aufgrund dieser Bedeutungen wurde die Gebärmutter der Frau als ‚ar-raḥim‘ betitelt, da das Kind dort gnädig und gütig behandelt wird. Die Namen Allahs ‚ar-Raḥmān‘, also ‚der Barmherzige‘ und ‚ar-Raḥīm‘, ‚der Allerbarmer‘ werden von ‚ar-Raḥma‘, der Barmherzigkeit, abgeleitet.[2]

Unter der ‚ṣila ar-raḥim‘ wird die Pflege der Verwandtschaftsbande verstanden, welche hier erläutert wird.

Das Pflegen der Verwandtschaftsbande ist ein Gebot Allahs und Seines Gesandten (ṣ)

Die Pflicht, seine Verwandten gut zu behandeln sowie die Verwandtschaftsbande nicht zu zerbrechen, kann dem heiligen Koran und der Sunna direkt entnommen werden. So sagt Allah, der Erhabene:

„So gib dem Verwandten sein Recht, ebenso dem Armen und dem Sohn des Weges. Das ist besser für diejenigen, die Allahs Angesicht begehren. Und jene sind es, denen es wohl ergeht.“ (ar-Rūm: 38)

Dieser Vers erwähnt das Recht des Verwandten neben den Rechten, die Arme und Reisende gegenüber dem Muslim haben. Er stellt eine Assoziation zu Bedürftigkeit dar, welche beispielsweise der Arme haben mag, und legt gleichzeitig einen Schwerpunkt auf die Verwandten, in dem diese zuerst genannt werden. In den folgenden Versen wird der Stellenwert der Verwandten weiterhin verdeutlicht:

„Allah gebietet Gerechtigkeit, gütig zu sein und den Verwandten zu geben; Er verbietet das Schändliche, das Verwerfliche und die Gewalttätigkeit. Er ermahnt euch, auf dass ihr bedenken möget.“ (an-Naḥl: 90)

Im gleichen Vers, in dem grundlegende Gebote wie das gerechte Handeln und das Verbot von Gewalt behandelt werden, findet sich auch das Gebot, den Verwandten zu geben. Dies weist auf die Wichtigkeit der Verwandtschaftsbande hin, was in folgendem Vers noch deutlicher wird:

„O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, Der euch aus einem einzigen Wesen schuf, und aus ihm schuf Er seine Gattin und ließ aus beiden viele Männer und Frauen sich ausbreiten. Und fürchtet Allah, in Dessen (Namen) ihr einander bittet, und die Verwandtschaftsbande. Gewiss, Allah ist Wächter über euch.“ (an-Nisāʾ: 1)

Die Dringlichkeit, die Verwandtschaftsbande zu respektieren, wird also deutlich, in dem der Aufruf dazu direkt nach dem Aufruf zur Gottesfurcht folgt. Bemerkenswert ist hier, wie Allah, der Erhabene, zunächst auf die Verwandtschaft der gesamten Menschheit miteinander eingeht, in dem Er die Geschichte der Schöpfung der Menschen erwähnt. Des Weiteren sagt der Erhabene: „Aber die Blutsverwandten stehen einander am nächsten; (dies steht) im Buch Allahs. Gewiss, Allah weiß über alles Bescheid.“ (al-Anfāl: 75)

Nachdem der vorherige Vers auf die Verwandtschaft der gesamten Menschheit durch Adam (Friede auf ihm) hinweist, wird hier die besondere Stellung der Blutsverwandtschaft hervorgehoben.

Auch in der prophetischen Sunna gibt es zahlreiche Überlieferungen, die auf die immense Wichtigkeit der Verwandtschaftsbande deuten und die Pflicht sie zu pflegen hervorgehoben. So sagte der Gesandte Allahs (ṣ): 

„Die Verwandtschaftsbeziehung ist am Thron festgebunden und sagt: ‚Wer mich pflegt, den wird Allah pflegen; wer mich bricht, mit dem bricht Allah ab’.” (Muslim, 2555)

Abu Huraira (ra) berichtet: Ein Mann kam zum Propheten (ṣ) und sagte: 

„O Gesandter Allahs, ich habe Verwandte, ich pflege die Verwandtschaftsbeziehung zu ihnen und sie zu mir nicht. Ich behandle sie mit Güte, und sie behandeln mich schlecht. Ich bin milde zu ihnen, doch sie ignorieren mich.” Er (ṣ) sagte: „Wenn es so ist, wie du erwähnst, dann ist es so, als ob du sie heiße Asche trinken lässt. Solange du darauf (auf deiner Güte und Freundlichkeit) beharrst, wird Allah dir helfen und dich vor ihnen schützen.” (Muslim, 2558)

Das Urteil über Verwandtschaftsverhältnisse

Die frommen Altvorderen tätigten Aussagen, welche die Belohnung und das Urteil über die Verwandtschaftsverhältnisse über die bekannten Verse des Koran hinaus verdeutlichen. So sagte ʿAmr b. Dīnār (r): „Wisset, dass nach dem obligatorischen Gebet keinem Schritt eine größere Belohnung zuteil kommt als einem Schritt in Richtung einer verwandten Person.“[3]

Aṭ-Ṭībī (r) verglich denjenigen, der seine Verwandtschaftsbande pflegt, mit demjenigen, der sie unterbricht. Während Allah ersterem seine Spur im Diesseits für eine lange Zeit bewahre, verblasse die Spur desjenigen, der sich nicht um die Verwandtschaft sorgt, schnell.[4]

Der Rechtsgelehrte Al-Qāḍī ʿIyāḍ (r) betonte ebenfalls, es bestünde kein Zweifel an der allgemeinen Pflicht der Aufrechterhaltung von Verwandtschaftsbanden. Folglich sei das Unterbrechen dieser eine große Sünde. Beweise zu seiner Aussage finden sich in den Hadithen. Weiterhin führte er aus, dass es bei den Verwandtschaftsbanden verschiedene Abstufungen gebe, wobei einige dieser höher zu bewerten seien als andere. Seiner Aussage nach ist das Pflegen des Verhältnisses in geringeren Stufen teilweise nicht obligatorisch, jedoch immer wünschenswert.[5]

Der schafiʿitische Gelehrte an-Nawawī (r) schrieb in Bezug auf das Urteil der Verwandtschaftsbande:

 „Die Gelehrten waren sich uneinig hinsichtlich der Grenze der Verwandtschaft, die aufrecht erhalten werden muss. Die erste Meinung ist die, dass mit ar-raḥim alle verbotenen Personen gemeint sind, d.h. wenn einer von ihnen ein Mann und der andere eine Frau wäre, ihre Ehe verboten wäre […].[6]“ Bezüglich dieser ersten Meinung würden also Vettern nicht zu den Personen zählen, bei denen der Muslim die Verwandtschaftsbande pflegen muss. Auch andere Verwandtschaftsbeziehungen, bei denen den Verwandten eine Ehe miteinander erlaubt wäre, würden somit ausgeschlossen. Weiterhin sagt an-Nawawī: „Die zweite Meinung besagt, dass ar-raḥim jeder allgemeine Verwandte im Erbe ist, also die mahārim und alle weiteren. Und bezeugt wird dies durch die Worte des Propheten (ṣ): ,…dann deine Verwandten gemäß ihrer Nähe zu dir.‘ Und diese zweite Aussage ist die richtige.“[7]

Somit soll die Verwandtschaftsbande zu all denjenigen gepflegt werden, die erbberechtigt sind, und es besteht kein Unterschied in der Tatsache, ob die Verwandten mahārim sind oder nicht.

Wie die Verwandtschaftsbeziehungen aufrecht erhalten werden kann

Die Aufrechterhaltung der Verwandtschaftsbeziehungen kann je nach Situation unterschiedlich erfolgen. Allgemein kann der Muslim durch den gütigen Umgang mit den Verwandten seine Pflicht erfüllen. So sagte etwa Imam an-Nawawī zu der Thematik folgendes:

„Das Aufrechterhalten von Verwandtschaftsbanden bedeutet die Freundlichkeit gegenüber Verwandten. Teilweise geschieht dieses gütige Verhalten durch finanzielle Unterstützung, andere Male durch einen Dienst, den man dem Verwandten erweist. Wiederum andere Male mag dieser gütige Umgang darin bestehen, einen Verwandten zu besuchen und ihm den Friedensgruß zu geben.“[8]

Der Gelehrte Al-Qurṭubī unterscheidet zwischen der Verwandtschaft, welche die Muslime miteinander als Geschwister im Glauben verbindet, und der Blutsverwandtschaft. So sagte er:

„Die Verwandtschaft, die sich im Allgemeinen und im Besonderen erstreckt, die Allgemeinheit ist die Verwandtschaft der Religion, und die Bande zu ihnen müssen durch Freundschaft und Rat, Gerechtigkeit und Fairness aufrechterhalten werden. Was die besondere Verwandtschaft betrifft, so wird für diese Verwandten für ihren Unterhalt ausgegeben, indem ihre Situationen beachtet werden und ihre Fehler vernachlässigt. Die Ränge des Anrechtes der Verwandten in dieser Hinsicht variieren, wie im ersten Hadith im Kapitel al-adab gesagt wird: ,Zuerst der Nächste, dann der darauffolgende nächste.‘“[9]

Somit haben die Blutsverwandten größeres Anrecht auf finanzielle Unterstützung, doch auch andere Muslime haben gegenüber dem Muslim ein Anrecht auf eine angemessene Behandlung.

Der Gelehrte Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī unterscheidet im Dienst gegenüber dem rechtschaffenen Blutsverwandten und dem Nichtgläubigen Blutsverwandten:

„Die umfassende Bedeutung von dem Aufrechterhalten der Verwandtschaftsbande ist folgende: Es ist das Mögliche an Gutem zu liefern und das Mögliche an Bösem abzuwehren, je nach den eigenen Fähigkeiten. Dies setzt sich fort, wenn die Verwandten rechtschaffene Leute sind, und wenn sie Nichtgläubige oder Atheisten sind, dann besteht das Aufrechterhalten der Verwandtschaftsbande zu ihnen darin, sich zu bemühen und sie zu ermahnen. Und sie zu informieren, wenn sie dann darauf bestehen, liegt dies an ihrem Abweichen von der Wahrheit. Und damit erlischt das Aufrechterhalten der Bande nicht, indem sie im Verborgenen für sie beten, dass sie auf den richtigen Weg zurückkehren.“[10]

Der nichtmuslimische Verwandte soll also über die Religion informiert und ermahnt werden, den richtigen Glauben anzunehmen. Als letzter Weg bleibt dem Muslim das Bittgebet um Rechtleitung für seinen Verwandten.

Die Taten, welche zum Pflegen der Verwandtschaftsbeziehung beitragen, wurden von Ibn Abī Ǧamra folgendermaßen zusammengefasst: „Das Band der Verwandtschaft besteht im Geld, der Hilfe in Not, der Abwehr von Schaden, in der guten Miene und im Bittgebet.“[11]

Beziehung zu nichtmuslimischen Verwandten

Zunächst sollte ein Muslim seine nichtmuslimischen Verwandten im Gebet erwähnen, auf das Allah ihre Herzen für den Islam öffne und sie Muslime werden lässt.

Die Behandlung nichtmuslimischer Verwandten in Bereichen, die die Religion betreffen, ist folgendermaßen zu beschreiben: Allah, der Erhabene, hat ein größeres Anrecht auf Gehorsam als eines seiner Geschöpfe. Daher sagt Allah über die Gehorsamkeit gegenüber den Eltern, wenn sie zu Unrecht aufrufen: „Wenn sie sich aber darum bemühen, dass du Mir das beigesellst, wovon du kein Wissen hast, dann gehorche ihnen nicht, doch geh mit ihnen im Diesseits in rechtlicher Weise um. Und folge dem Weg dessen, der sich Mir reuig zuwendet. Zu Mir wird hierauf eure Rückkehr sein, da werde Ich euch kundtun, was ihr zu tun pflegtet.“ (Luqmān: 15)

Entsprechend sagte Ibn Kaṯīr: „Wenn sie darauf abzielen, dass du ihnen in ihrer Religion folgst, akzeptiere das nicht von ihnen, und das hindert dich jedoch nicht daran, sie in dieser Welt freundlich zu begleiten; d.h. sie gütig zu behandeln.“[12]

Der Imam al-Qurṭubī schreibt in seinem Tafsir: „Der Vers ist ein Beweis dafür, die Verwandtschaftsbande mit den Nichtgläubigen Eltern aufrechtzuhalten, ihnen mit Geld auszuhelfen, wenn sie arm sind, sie freundlich anzusprechen und sanft zum Islam aufzurufen.“[13]

Al-Bukhari und Muslim berichten, dass Asmāʾ bint Abī Bakr gesagt hat: ,Meine Mutter kam zu mir, als sie während der Ära des Gesandten (ṣ) Polytheistin war. Also bat ich den Gesandten Allahs (ṣ) um Rat. Er sagte: ,Ja, halte die Verwandtschaftsbande zu deiner Mutter aufrecht.“[14]

Fazit: Aufgrund der aufgeführten Quellen ist es zweifellos, dass das Aufrechterhalten der Verwandtschaftsbande eine Pflicht für jeden Muslim darstellt. Das Befolgen dieser Pflicht führt zum Guten, während das Unterlassen davon eine Sünde darstellt, wenn der Verwandte ein Verwandter im Erbe sein sollte. Je nach Situation des Verwandten sollten seine Bedürfnisse erfüllt werden, sei es das Beheben finanzieller Not oder das Sichern des Unterhaltes, freundliche Zuneigung oder regelmäßige Besuche. Besondere Zuneigung in Form von Bittgebeten und der liebevollen Einladung zum Islam sollte nichtmuslimischen Verwandten gegeben werden. Möge Allah, der Erhabene, unsere Verwandten im Paradies mit uns vereinen.

 

Endnoten:

[1] Al-Muʿǧam al-wasīṭ, S. 335

[2] Maqāyīs al-Luġa von Ibn Fāris, Bd. 2, S. 498, Muḫtār aṣ-Ṣiḥāḥ von ar-Rāzī, S. 120

[3] Makārim al-Aḫlāq von Ibn Abī ad-Dunyā, S. 82, Nr. 245

[4] Fatḥ al-Bārī von Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī, Bd. 10, S. 416

[5] Šarḥ Ṣaḥīḥ Muslim von an-Nawawī, Bd. 8, S. 356

[6] Šarḥ Ṣaḥīḥ Muslim von an-Nawawī, Bd. 8, S. 356

[7] Šarḥ Ṣaḥīḥ Muslim von an-Nawawī, Bd. 8, S. 356

[8] Šarḥ Ṣaḥīḥ Muslim von an-Nawawī, Bd. 2, S. 201

[9] Fatḥ al-Bārī von Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī, Bd. 10, S. 433

[10] Fatḥ al-Bārī von Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī, Bd. 10, S. 433

[11] Fatḥ al-Bārī von Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī, Bd. 10, S. 433

[12] Tafsir Ibn Kaṯīr, Bd. 11, S. 54

[13] Tafsīr al-Qurṭubī, Bd. 14 S. 66

[14] Buḫārī Hadith 2620 / Muslim Hadith 1003

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