Die Beschränkung der Scharia auf absolut eindeutigen und evidenten (qaṭʿī) Beweisen
Auszug aus dem Buch „Die Macht der vorherrschenden Kultur“ – سلطة الثقافة الغالبة von Ibrahim b. ʿUmar S.
Da die vorherrschende Kultur unweigerlich mit einigen Aspekten des islamischen Rechts kollidieren wird, sind in zeitgenössischen Denkschulen Mechanismen beliebt, um die Dominanz dieser Aspekte in der Scharia zu verringern und zu beseitigen. Eine dieser populären Mechanismen ist die Idee, „die Scharia auf das zu beschränken, was als qaṭʿī aṯ-ṯubūt wad-dalāla[1] bezeichnet wird.“ Der Grund für die Popularität dieser Idee liegt in den dort enthaltenen Termini, die dem Uṣūl al-fiqh entstammen, welche sie als Mittel benutzen, um ihre unrechtmäßigen Ansichten zu legitimieren.
Bemerkenswert ist, dass viele der Denkströmungen, die die Konzepte der vorherrschenden Kultur aufgenommen haben, von falschen Prämissen ausgehen, die alle jeweils zueinander führen. So beginnen sie mit der Aussage, dass es keine Missbilligung (inkār) gebe, außer in den absolut sicheren und evidenten (qaṭʿī) Beweisen. Dann führen sie fort mit der Haltung, dass es nichts dagegen einzuwenden sei, ein Scharia-Urteil zu ändern, solange es nicht gewissen Ursprunges ist. Im Anschluss daran verändern sie das Konzept des evidenten Beweises und schränken es in seinem Bedeutungsgehalt ein. So behaupten sie, dass jeglicher Einwand, auch wenn er eine abweichende Meinung (šāḏ) darstellt, die Evidenz des Beweises beeinträchtige. Genauso, wie sie jegliche Mehrdeutigkeit (iḥtimāl) in den Beweisen, auch wenn sie nicht beachtenswert ist, als Beweis dafür nehmen, die Evidenz eines Urteils zu entkräften.
Manchmal nehmen sie sogar das Fehlen der Nennung des Urteils im Koran als Grund, den definitiven und zweifellosen Charakter eines Beweises einzuschränken. Wiederum andere nehmen das Fehlen der Nennung des Urteils in den beiden Ṣaḥīḥ-Werken von al-Buḫārī und Muslim als Grund, den zweifellosen Charakter eines Beweises einzuschränken. „All diese Punkte machen den Sachverhalt zu einer Angelegenheit des Idschtihad.“ Was die āḥād-Hadithe betrifft, so scheint es fast so, als sei ihre größte Sorge zu beweisen, dass diese keinen absolut sicheren Charakter besitzen, egal wie viele Beweise dafür existieren.
Zusammenfassend ist bei den Denkrichtungen, die der Autorität der vorherrschenden Kultur unterliegen, festzustellen, dass sie nicht zögern, an dem geringsten Verdacht festzuhalten,
um das absolute sichere Wissen abzulehnen, bis es bei ihnen fast zu dem wird, worauf sich nur die Menschen und Nationen geeinigt haben, bzw. worauf sich die Starken und Schwachen gemeinsam einigen.
Ein Beispiel dafür ist, dass sie (…) Bankzinsen und dergleichen leugnen. Als Begründung dafür ziehen sie das Argument heran, dass die Beweise für diese Angelegenheiten nicht eindeutig sicher seien (basierend auf ihrem Verständnis „eindeutig sicher/qaṭʿī“), und sie betrachten das als ein ausreichendes Argument.
Tatsächlich schrieb einer von ihnen: „al-Ǧuwainīs Unterscheidung zwischen evidentes und präsumtives (Wissen) öffnet die Tür zum Idschtihad“. Damit meint er, dass alles, was nicht absolut sicher ist, aus dem geringsten Grund abgelehnt werden darf, und nicht als Ergebnis von ernsthafter und aufrichtiger Suche nach der Intention Gottes und seines Gesandten, Friede sei mit ihm.
Hier wird folglich ersichtlich, wie sie die Unterscheidung zwischen evident und präsumtiv ausnutzen und sie al-Ǧuwainī zuschreiben, als ob es eine neue Angelegenheit wäre, die das Hinzufügen einer neuen rechtfertigt, obwohl die Unterscheidung zwischen evident und mutmaßlich ursprünglich eine traditionelle Unterscheidung des Uṣūl war, die schon vor al-Ǧuwainī bekannt war. Also kombinierten diese Personen die Unwissenheit über die Geschichte der Rechtsbegriffe mit ihrem Missbrauch.
Und man kann erkennen, dass einige von denen, die dieses Verständnis tragen, Zeugen einer Verzerrung der säkularen, liberalen, aufgeklärten und linken Gesetze des Islams sind. Dies kümmert sie jedoch nicht, denn sie behaupten, dass sie nichts Evidentes geleugnet haben. Ihrer Meinung besitzt alles, was sie verleugnen, entweder einen Zweifel über seine zweifellose Authentizität (qaṭʿī aṯ-ṯubūt) oder sein Bestehen als eine Evidenz (qaṭʿī ad-dalāla).
Und das Endergebnis von all dem, wenn der objektive Forscher darüber nachdenkt, ist „die Scharia auf qaṭʿī aṯ-ṯubūt wad-dalāla zu reduzieren“. Somit gilt, dass jede Scharia-Angelegenheit, welche in ihrer Ansicht nach nicht evident ist, keinen heiligen Charakter habe. Daher sei es zulässig, diese aus reformerischen Gründen auszulassen, welcher ihrer Meinung nach in der Legitimation der Konzepte der vorherrschenden Werte liegt und so keine Ablehnung jeglicher Einwände gemacht werden dürfen.
Wenn zu ihnen über eines der Phänomene gesagt wird: „Dies ist ein Übel, das abgelehnt werden muss“, entgegnen sie: „Es ist nicht qaṭʿī aṯ-ṯubūt oder nicht qaṭʿī ad-dalāla.“ Sie reduzierten die Scharia auf einen kleinen Teil von dem, was sie Evident (qaṭʿī) kategorisch nannten. Dies führte dazu, dass die Mehrheit der Worte Gottes und der Worte Seines Gesandten ihrer Ansicht nach weder zur Rechtleitung noch zur Argumentation (iḥtiǧaǧ) geeignet sind. Weil sie entweder nicht qaṭʿī aṯ-ṯubūt oder nicht qaṭʿī ad-dalāla sind. Doch hat Allah, der Allmächtige, einer kleinen Anzahl von Menschen befohlen, die Religion Gottes zu lehren, wie Gott, der Allmächtige, in der Sure at-Tawba (gemäß) sagte: „Wenn doch von jeder Gruppe von ihnen ein Teil ausrücken würde, um (mehr) von der Religion zu erlernen und um ihre Lete zu warnen“ (at-Tawba: 122).
Und wenn die Religion, auf die sich der Beweis (al-ḥuǧǧa) stützt, diese Art von kategorisch ihrer Interpretation nach wäre, dann wäre diese Anweisung im Koran vergeblich gewesen. Allah ist darüber erhaben, dass die Überlieferung, die durch eine kleine Anzahl an Personen geschieht, keine evidenten Beweise liefert, gemäß ihrer Definition.
Der Prophet, Friede und Segen seien auf ihm, sagte in verschiedenen Hadithen, die alle die gleiche Bedeutung haben und die in tawātur-Weise Gewissheit vermitteln: „Berichtet über mich, sei es auch durch eine einzige Zeile.“[2] Und er, Friede sei mit ihm, sagte: „Möge Gott eine Person segnen, die einen Hadith von uns hört und ihn übermittelt.“[3] Und wenn die Religion nur mit endgültigen Beweisen bewiesen und nur damit argumentiert werden würde, gemäß der Definition des evidenten Charakters, der hier besprochenen Personen, wäre diese Anweisung des Propheten reines Geschwätz ohne jeglichen Nutzen. Und davon kann keine Rede sein. Denn es hat keinen Vorteil für einen Menschen, einen Hadith zu übermitteln, der nicht qaṭʿī aṯ-ṯubūt und die Interpretation dieses Hadithes mutmaßlicher (ẓannī) Natur ist.
Unter den Gelehrten der Geschichte, der Hadithe, und unter Gelehrten aller islamischer Wissenschaften, sogar bei Gelehrten literarischer Werke, ist in mutawātir-Weise überliefert worden, dass nur ein Prophet zu einer jeweiligen Gemeinschaft gesendet wurde, um sie über den gesamten Islam zu informieren und nicht über einen einzelnen Hadith.
Nichtsdestotrotz weist der Prophet die Auswirkungen seiner Botschaft ihnen zu. Und wenn der Beweis nur durch evidente Beweise bewiesen werden würde, dann hätte der Prophet diese Gemeinschaften nicht durch āḥād-Überlieferungen über die Grundlagen (uṣūl) und Zweige (furūʿ) der Religion benachrichtigt.
Und genauso wie sie auf der einen Seite die Scharia auf „qaṭʿī aṯ-ṯubūt wad-dalāla“ reduzieren, erweitern sie andererseits den Großteil der Scharia sehr stark auf den mutmaßlichen (ẓannī) Charakter. Und so behaupten viele derer, die mit ihrer Kultur verbunden sind, dass „die meisten Rechtsurteile (aḥkām fiqhīya) mutmaßlich (ẓannī)“ seien. Sie greifen immer wieder auf diese Idee zurück, wenn ihnen jemand ein Rechtsproblem abspricht oder wenn sie über Relativität, Toleranz und andere verwandte Themen sprechen wollen. Und vielleicht zitierten einige von ihnen gewisse Stellen aus manchen späteren Büchern des Uṣūl al-Fiqh, die ihre Haltung bekräftigten und die auf philosophischen Grundlagen aufgebaut sind und welche die „Scharia zu einer Angelegenheit der Spekulation“ machen. Einige von ihnen gehen von dem Grundsatz aus, dass „eine Meinungsverschiedenheit der Gelehrten ein Beweis für den spekulativen Charakter einer Angelegenheit“ ist.
Inwieweit ist also dieses Verständnis von dem Beweisniveau der Rechtsprechung als wissenschaftlich korrekt zu betrachten? Hier ist eine wunderbare Antwort von Ibn Taymīya aus seinem Buch „al-Istiqāma“ als Antwort auf diejenigen, die sagten, dass „die Rechtsprechung (fiqh) zum Bereich der spekulativen Angelegenheiten“ gehöre. Ibn Taymīya schreibt diesbezüglich:
„Jenen, die über die Scharia reflektieren, ist wohlbekannt, dass die Allgemeinheit der Urteile über die Handlungen der Diener bekannt sind und nicht spekulativ (ẓannī) vermutet werden, und dass die Spekulation hinsichtlich der Handlungen sehr gering ist bei manchen Begebenheiten einiger Mudschtahids. Was die Mehrheit der Taten betrifft, ihr Inhalt und ihre Bewirkung, so sind die meisten Urteile darüber (eindeutig) bekannt, und bei Allah liegt der Dank. Ich meinte damit, wenn ich sage, dass sie bekannt sind, dass das Wissen darüber möglich ist, und es resultiert durch Anstrengung und Schlussfolgerung aus den Scharia-Beweisen. Ich meine damit nicht, dass sich das Wissen darüber jedermann ergibt.[4]
Endnoten
[1] Anm. d. Übers. qaṭʿī aṯ-ṯubūt bedeutet definitiv authentisch und gut erhalten, intakt. qaṭʿī ad-dalāla bedeutet, dass der Beweistext im Bezug auf einen Sachverhalt eindeutig ist. Der Koran ist gänzlich qaṭʿī aṯ-ṯubūt, also definitiv authentisch. Dies, weil die Koranverse zahlreich weiterüberliefert wurden von Generation zu Generation. Bezüglich qaṭʿī ad-dalāla, so sind einige Koranverse qaṭʿī ad-dalāla, denn sie vermitteln eindeutige, zweifellose Beweise. Andere Koranverse wiederum sind mehrdeutig und müssen von den Gelehrten interpretiert werden, im Zuge dessen kommt es teilweise zu verschiedenen Interpretationen mancher Koranverse.
[2] Von al-Buḫārī überliefert (3461) aus der Überlieferung von ʿAbdullāh bin ʿAmr.
[3] Von at-Tirmiḏī überliefert (2657), Ibn Māǧa (232), der Wortlaut stammt von dem Hadith von ʿAbdullāh bin Masʿūd.
[4] Ibn Taymīya, al-Istiqāma, Edit. von Muhammad Rashed Salem, Našr Ǧāmiʿa al-Imām, 2. Auflage, 1411 (n. H.), Bd. 1, S. 55.