Einleitung
In einem Koranvers spricht Allah zum Propheten Muhammad (ṣ):
„Und Wir haben dir das Buch offenbart als klare Darlegung von allem und als Rechtleitung, Barmherzigkeit und frohe Botschaft für die (Allah) Ergebenen.“[1]
So wurden dem Gesandten Allahs alle Angelegenheiten, welche die Menschheit betreffen, im Koran oder in der Sunna offenbart: sei es in spezifischer oder allgemeiner Form, expliziter oder impliziter, wörtlicher oder metaphorischer, etc. Aus diesem Grund sollten sich die Muslime hinsichtlich jeder ihrer Angelegenheiten den göttlichen Quellen zuwenden. Dies, um in ihnen nach Wegleitung und Anweisung zu suchen.
In der Sunna wird überliefert, dass es für jede Krankheit eine Heilung gibt. Dadurch werden die Menschen angespornt, das geeignete Heilungsmittel für eine jede Krankheit zu finden. Auch hygienische Anweisungen in der Sunna haben ihre gesundheitlichen Vorteile. So wurden auch Fragen nach Krankheiten, Plagen und Pandemien in den Offenbarungstexten und in der islamischen Wissenschaft behandelt.[2]
Dieser Beitrag soll eine kurze Einführung in diese Thematik darstellen. Dabei werden sowohl wichtige Definitionen als auch einige Epidemien untersucht, die die Muslime in der islamischen Geschichte heimsuchten, und auch wie die Muslime mit ihnen umgingen. Ferner werden einige in diesem Zusammenhang wichtige Hadithe näher unter die Lumpe genommen und einige islamrechtliche Regeln erwähnt.
Definitionen
In der islamischen Literatur kommen mehrere Bezeichnungen für ‚Epidemie‘ vor. Deshalb ist es wichtig, diese zu definieren. Vor allem aber auch, da das Verständnis einiger Hadithe von den Definitionen abhängt und dies die Methodik der muslimischen Gelehrten darstellt. Auch ist dies wichtig, um die heutige Situation im Hinblick auf das Coronavirus aus islamischer Sicht beurteilen zu können.
In der arabischen Sprache werden unter anderem zwei Begriffe im Zusammenhang mit Ansteckungskrankheiten und ihrer Übertragung und Ausbreitung erwähnt: 1) al-wabāʾ und 2) aṭ-ṭāʿūn.
Zu 1): Der persische Wissenschaftler Ibn Sīna (Avicenna) definierte al-wabāʾ als eine Krankheit, die den lebensnotwendigen Sauerstoff verdirbt, ohne dessen Einatmen kein Lebewesen leben kann.[3] Einige Fiqh-Gelehrte definierten al-wabāʾ als eine Krankheit, die eine ungewöhnlich große Zahl von Menschen betrifft.[4] Zeitgenössische Gelehrten definieren sie als eine Krankheit, die hochgradig ansteckend ist, sich sehr schnell verbreitet und dessen Ansteckung in der Regel tödlich endet, wie z.B. aṭ-ṭāʿūn.[5]
Diese Definitionen gleichen den Definitionen von Epidemien, die im Lexikon vom RKI (Robert Koch-Institut) aufgeführt sind. Epidemien werden dort beschrieben als:
„Erkrankungswelle, epidemisches Geschehen (veraltet: Seuchengeschehen); im Vergleich zur Ausgangssituation treten bestimmte Erkrankungsfälle mit einheitlicher Ursache vermehrt auf, der Prozess ist zeitlich und räumlich begrenzt. Der Begriff bezieht sich meist auf Infektionskrankheiten, dies ist aber keine Bedingung. Eine besonders hohe Zahl an Erkrankungen, eine besondere gesellschaftliche Bedeutung oder eine Gefährdung vieler Personen sind ebenfalls keine notwendigen Bedingungen, obwohl eine Epidemie im üblichen Sprachgebrauch meist mit diesen Merkmalen verknüpft wird.“[6]
Basierend auf den oben genannten Definitionen ist das Coronavirus eine Epidemie bzw. laut WHO angesichts ihrer großen geographischen Verbreitung eine Pandemie. [7] Sie fällt unter der arabischen Definition von al-wabāʾ. Es handelt sich also um eine hoch ansteckende und sich schnell ausbreitende Krankheit, die eine außergewöhnlich hohe Anzahl an Todesopfern haben kann.
Zu 2): Im Hinblick auf aṭ-ṭāʿūn gibt es unterschiedliche Definitionen. Gelehrte wie al-Ǧawharī, Ibn al-Mulaqqin, al-Qurtbubī, al-ʿAynī und andere definierten aṭ-ṭāʿūn als eine wabāʾ, d.h. als eine unbestimmte tödliche Krankheit, die sich schnell verbreitet.[8] Andere Gelehrte wie Ibn ʿAbdilbarr, an-Nawawī, Ibn al-Qayyim und Ibn Ḥaǧar sehen aṭ-ṭāʿūn als eine spezifische epidemische Krankheit an.[9] Sie definieren aṭ-ṭāʿūn als eine Krankheit, welche durch schmerzhafte dunkelfarbige (Blut-)Geschwülste im Körper gekennzeichnet ist (Beulenpest).[10] Andere epidemische Krankheiten werden laut diesen Gelehrten als aṭ-ṭāʿūn nur auf metaphorische Weise (maǧāz) bezeichnet. Laut Ibn Ḥaǧar unterscheidet sich aṭ-ṭāʿūn von der allgemeinen Epidemie al-wabāʾ auch dadurch, dass diese von den Dschinn ausgelöst wird. Als Beleg führt er an, dass sie an sehr reinen Orten, mit reiner Luft und wenigen Kranken ausbrechen. So müsse es einen unsichtbaren Grund dafür geben.[11] Diese Aussage stärkt er mit einer Überlieferung, die er und andere Hadithgelehrten als authentisch einstufen:
Abū Mūsā überlieferte, dass der Prophet (ṣ) sagte: „Meine Gemeinschaft wird durch aṭ-ṭaʿn und aṭ-ṭāʿūn sterben“. Daraufhin sagten einige: „O Gesandter Allāhs! Wir wissen was aṭ-ṭaʿn (Kriege) ist. Was aber ist aṭ-ṭāʿūn?“ Er erwiderte: „Es sind innerliche Stiche (waḫz al-ǧinn) von eueren Feinden von den Dschinn; und in beiden Todesarten ist Märtyrertum.“[12]
Epidemien im ersten Jahrhundert nach der Auswanderung (hiǧra)
Im 1./7. Jahrhundert brachen mehrere Epidemien[13] aus. Unter ihnen die folgenden:
Im ersten Auswanderungsjahr herrschte eine Fieber-Epidemie in Medina, von der einige Gefährten betroffen waren. Diese wird im nächsten Abschnitt erläutert.
1. Im Jahr 18 nach der Auswanderung brach die Epidemie in Emmaus (ʿamawās) von Levante (aš-šām) aus. Durch diese Epidemie starben viele Prophetengefährten, darunter Muʿāḏ b. Ǧabal und sein Sohn, Abū ʿUbaydah b. al-Ǧarrāḥ, Šuraḥīl b. Ḥasanah und weitere – möge Allah mit ihnen zufrieden sein. In dieser Epidemie starben schätzungsweise 25.000 Menschen. Eine bekannte Überlieferung diesbezüglich ist die von ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb: Als er nach Levante zog und an der Grenze des heutigen Jordaniens ankam (sarġ/saraġ), traf er auf Abū ʿUbaydah b. al-Ǧarrāḥ und einige seiner hochrangingen Soldaten. Sie berichteten ihm, dass sich eine Epidemie in der Levante ausbreitete. Anschließend zog er verschiedene Gefährten zur Rate, bis er einige Wissende unter den qurayš fragte und sie sich einig waren, zurückzukehren, und das mit der Epidemie betroffene Levante nicht zu betreten. Abū ʿUbaydah b. al-Ǧarrāḥ lehnte die Entscheidung ʿUmars ab und sagte: „Fliehst du vor Allahs Vorherbestimmung?!“ ʿUmar erwiderte: „Von dir hätte ich diese Aussage nicht erwartet! (wortwörtlich: Hätte es ein anderer als du gesagt!) Ja, wir fliehen von einer Vorherbestimmung zu einer anderen Vorherbestimmung.“ Als sie sich noch unterhielten kam der Prophetengefährte ʿAbdurraḥmān b. ʿAwf zu ihnen und sagte: „Wahrlich, ich besitze hierüber Wissen. Ich hörte den Gesandten Allah (ṣ) sagen: ‚Wenn ihr von ihr (aṭ-ṭāʿūn) in einem Ort hört, so geht nicht dahin und wenn es in eurem Ort ausbricht, so flieht nicht aus diesem Ort aus Angst.‘“ ʿUmar dankte Allah und ging fort.[14] Durch diese Pest starb Abū ʿUbaydah b. al-Ǧarrāḥ im Jahre 18 H.[15] Laut Ibn Ḥaǧar ist mit dieser ṭāʿūn die Epidemie gemeint, welche in dem Hadith von ʿAwf b. Mālik prophezeit wird. Er sagte: „Ich ging zum Propheten (ṣ) zur Zeit der Schlacht von Tabuk, während er in einem Zelt aus Leder saß. Er sagte: ‚Erachtet 6 Zeichen, welche das Eintreffen der Stunde indizieren: mein Tod, die Eroberung Jerusalems, eine tödliche Epidemie (mautān), die euch treffen wird (und zu vielen Toden von euch führen wird), so wie die Pest, die die Schafe trifft…“[16]
2. Die ausrottende Epidemie (aṭ-ṭāʿūn al-ǧārif) in Basra zur Regierungszeit von ʿAbdullāh b. az-Zubayr im Jahre 65 H.[17] Sie wurde ausrottend/al-ǧārif genannt, weil durch sie innerhalb von drei Tagen schätzungsweise 210.000 Menschen starben.[18] Es wird überliefert, dass 70 oder 80 Nachkommen von dem Prophetengefährten Anas b. Mālik durch diese Epidemie starben.[19] Auch von ʿAbdurraḥmān b. Abī Bakrah starben 40, von ʿUbaydullāh b. ʿUmayr 30 und von Ṣadaqah b. ʿĀmir sieben Nachkommen an einem Tag. Als Ṣadaqah zu ihnen wollte, sah er, wie alle von ihnen bedeckt waren. Er sagte: „Oh Allah, ich ergebe mich (Deiner Bestimmung) und bin Muslim.“[20] Es wird überliefert, dass in einem Haus an einem Tag bis zu 50 Menschen starben. Abū an-Nufayd berichtet: „Wir gingen durch die verschiedenen Stämme, um die Verstorbenen zu begraben. Als es aber zu viele wurden, konnten wir sie nicht mehr begraben. Stattdessen schlossen wir die Häuser, in denen sich die Leichen befanden.“[21]
3. Im Jahre 87 H. brach eine Epidemie aus. Sie wird die Epidemie der Mädchen (ṭāʿūn al-fatayāt) genannt, da sie sich am stärksten unter den Jungfrauen und Mädchen in Basra, Kufa und Levante verbreitete. Sie wird auch die Epidemie der Großen genannt, da durch sie auch viele hochrangige Menschen starben. Gemäß einigen Berichten starb der bekannte Kalif ʿAbdulmalik b. al-Marwān während dieser Pest.
Die größte Pandemie in der menschlichen Geschichte ist wohl die Pandemie von Europa. Sie wird als „der schwarze Tod“ bezeichnet.[22] Sie stellt eine der verheerendsten Pandemien der Weltgeschichte dar. In Europa starben zwischen 1346 und 1353 geschätzte 25 Millionen Menschen – ein Drittel der damaligen Bevölkerung. Nicht nur in Europa verbreitete sich diese Pest, sondern auch in den arabischen Ländern, wie Ägypten und in der Levante. Sie wird auch von Ibn Ḥaǧar erwähnt.[23]
Können Epidemien in der Prophetenstadt Medina auftreten?
Unter Beachtung der oben genannten Differenzierung, sollte das Verständnis der Hadithe entsprechend sein. Deswegen versteht Ibn Ḥaǧar den authentisch überlieferten Hadith
„An den Eingängen von Madina stehen Engel; dort kommt weder aṭ-ṭāʿʿūn noch der daǧǧāl rein.“[24]
so, dass eben nur diese spezifische Krankheit aṭ-ṭāʿūn in Medina nicht eintreten kann, wobei eine jede andere Krankheit auch dort ausbrechen könnte. In der Tat wird von der Frau des Propheten (ṣ) ʿĀʾišah überliefert, dass, als der Prophet nach Medina auswanderte, dort eine Art Fieberpest ausgebrochen war und einige Gefährten davon betroffen waren. Abū Bakr und Bilāl gehörten zu denjenigen, die stark betroffen waren, weshalb Bilāl aus Wut ein Bittgebet gegen die Feinde in Mekka aussprach, die der Grund für ihre Vertreibung aus ihrer Heimat waren. Als der Prophet (ṣ) Bilāl hörte, sagte er:
„Oh Allah, bring uns dazu, Medina zu lieben, so wie wir Mekka lieben oder noch mehr als das. Oh Allah, segne unseren Messbecher und Handvoll, und mache Medina gesund, und bringe das Fieber (die Fieber-Epidemie) nach al-ǧuḥfah[25].“[26]
ʿĀʾišah erklärte im Anschluss des Hadiths, dass Medina vor der Auswanderung hiǧra ein Ort war, an dem Epidemien oft aufgrund von Wasserverschmutzungen ausbrachen. Ebenso wird überliefert, dass viele Menschen durch eine zur Regierungszeit von ʿUmar in Medina ausgebrochene Epidemie starben.[27]
Interessant ist hierbei auch der Zusatz „in šāʾ Allāh“ (wenn Allah will) in einer der Aussagen des Propheten (ṣ) in einer Überlieferungsversion bei al-Buḫārī[28]:
„[…] dort kommt weder aṭ-ṭāʿūn noch der daǧǧāl rein, so Allah will.“
Dieser Zusatz wurde unterschiedlich ausgelegt. Der Prophet (ṣ) erwähnte dies entweder, um Allahs Segen zu erbitten, oder, um zu verdeutlichen, dass wenn Allah möchte, so könne Er auch den ṭāʿūn in Medina ausbreiten lassen. Ibn Ḥaǧar bevorzugte die erste Interpretation.[29]
Des Weiteren überliefert Fulayḥ b. Sulaymān diesen Hadith und erwähnt zusätzlich, dass sie auch in die Stadt Mekka nicht eintreten kann.[30] Allerdings handelt es sich hierbei um einen schwachen Tradenten. Ibn Maʿīn, Abū Ḥātim und weitere bewerteten die Zuverlässigkeit von Fulayḥ als schwach.[31] Ibn Ḥaǧar schreib über ihn er sei glaubwürdig, irrte sich aber oft. So wird dieser Zusatz als ein Irrtum seinerseits gewertet, da er der einzige mit ist, der es in der Form tradiert hat.
Es lässt sich also schlussfolgern, dass nur in Medina nur eine bestimmte Art von Epidemie (aṭ-ṭāʿūn) nicht ausbrechen kann, wobei dies bei anderen Epidemien in der Vergangenheit der Fall war und auch in der Zukunft noch so sein kann. Von daher steht diese Überlieferung in keinem Widerspruch zum Ausbruch des Coronavirus in Medina.
Einige Nutzen aus dem Vorangegangenen:
Der Unterschied zwischen al-wabāʾ und aṭ-ṭāʿūn: Erstere stellt eine allgemeine, letztere eine spezifische Epidemie dar. Die Hadithe, die über aṭ-ṭāʿūn sprechen, sind somit von spezifischer Natur und sollten nicht auf alle Epidemien übertragen werden. Ausgenommen davon sind einige islamrechtliche Aspekte, die durch den Analogieschluss abgeleitet werden können. Dazu später mehr.
Der Kalif ʿUmar bat verschiedene Gefährten um Rat, welche unterschiedlicher Meinung waren. Daraufhin besprach er dieses Problem mit den Wissendsten von qurayš, und beschloss, nicht in dieses Land einzutreten. So sollten in großen Angelegenheiten, die viele Menschen betreffen, nur Experten im jeweiligen Bereich herangezogen und ihre Meinung bevorzugt werden. Deshalb sollten bezüglich des Coronavirus sei es aus medizinischer Sicht nur bekannte Institutionen oder aus theologischer Sicht nur anerkannten Persönlichkeiten gefolgt werden.
Wenn sich jemand außerhalb eines Ortes befindet, in der eine Epidemie ausgebrochen ist, so darf er diesen Ort nicht betreten. Vorsichtsmaßnahmen stehen dabei nicht im Widerspruch zum Vertrauen auf Allah (at-tawakkul).
Die Gefährten hatten unterschiedliche Meinungen darüber, ob sie den von der Epidemie befallenen Ort betreten sollten oder nicht. Deswegen sollten Meinungsunterschiede nicht immer getadelt werden. Wenn Experten unterschiedlicher Meinungen sind, so ist es die Aufgabe des Staates und der Führer, die Maßnahmen zu bestimmen, welche dann von den Bürgern beachtet werden müssen. In der vorhin genannten Überlieferung hörte ʿUmar sich die verschiedenen Meinungen an und bestimmte anschließend als Kalif, wie sie handeln sollten.
Es kann vorkommen, dass nur wenige ein islamrechtliches Urteil bzw. eine Quelle kennen, während die meisten darüber kein Wissen besitzen – wie es der Fall bei ʿAbdurraḥmān b. ʿAwf war. Er kannte den überlieferten Hadith, während die meisten anderen ihn nicht kannten.
Epidemien im Lichte der islamischen Glaubenslehre
Auch die Frage, wie Epidemien aus der Perspektive der islamischen Glaubenslehre gesehen werden, wurde von den Gelehrten behandelt.
Es sollte grundsätzlich festgestellt werden, dass kein Leid existiert, ohne dass es von Allah vorherbestimmt wurde. Dabei stellt es ein im Koran und in der Sunna fest verankerter Glaubensinhalt dar, dass hinter jedem Leid auch eine Weisheit steckt, und dass der Gläubige danach streben sollte, das Leid demgemäß zu verstehen und auch aufzunehmen. Bekannt ist, dass das Leid eines Muslims generell entweder als Sühne für seine Sünden oder als Prüfung zu verstehen ist. Beides ist dafür da, dem Muslim einen höheren Platz im Jenseits erlangen zu lassen.
Nun wird bezüglich der ṭāʿūn-Epidemie Folgendes überliefert: Der Gesandte Allahs (ṣ) erwähnte den ṭāʿūn und sagte:
„Es ist ein Mittel der Bestrafung, wodurch einige Nationen bestraft wurden und einiges davon verblieb, und es erscheint hier und da…“[32]
In einer anderen Version heißt es zusätzlich:
„…und Er (Allah) machte sie für die Gläubigen zu einer Barmherzigkeit. Wenn ein Diener sich an einem Ort befindet, an dem der ṭāʿūn ausbricht, und er sich dort geduldig aufhält und weiß, dass ihm nichts widerfahren kann, außer das, was Allah für ihn vorherbestimmt hat, so bekommt er die Belohnung eines Märtyrers.“[33]
Laut diesem Hadith wird jemand, der sich an einem Ort aufhält, an dem der ṭāʿūn ausbricht, und die Überzeugung trägt, dass ihn nichts treffen kann, außer durch Allahs Vorherbestimmung und Willen, und dabei geduldig ist, die Belohnung eines Märtyrers bekommt. In dem Hadith wird nicht erwähnt, ob derjenige dadurch stirbt oder nicht, weshalb einige Gelehrten dies nicht als Bedingung für die Belohnung ansahen. Zu beachten ist, dass diese Belohnung laut den Gelehrten, die den ṭāʿūn als eine spezifische Krankheit definieren, eben nur für den ṭāʿūn gilt und nicht für alle Arten der Epidemien. Ein Analogieschluss wäre in diesem Fall fragwürdig, da in Glaubensfragen keine Analogieschlüsse gezogen werden können, sondern nur in fiqh-Angelegenheiten.[34] Dennoch ist Allahs Barmherzigkeit so groß, dass Betroffene auf eine gewaltige Belohnung hoffen können. Erwähnenswert ist hier, dass die Belohnung des Märtyrers eine jenseitige ist, sodass auf den Verstorbenen nicht die gleichen diesseitigen Rechtsurteile angewandt werden, wie auf denjenigen Märtyrer, der im Krieg gefallen ist.
Obwohl Leid für den Gläubigen mit Weisheiten einhergeht, lehrt uns die Sunna des Propheten (ṣ), sowohl religiöse als auch weltliche Vorkehrungen zu treffen und sich nicht bewusst Leid zufügen zu lassen. Dies, da der Mensch sich stets zwischen den Handlungen bewegt, die von Allah vorherbestimmt wurden. So wird ihn nichts treffen und nichts nützen, außer mit Allahs Erlaubnis. Der Muslim weiß, dass es Sunna-gemäß ist, die täglichen Bittgebete jeweils morgens und abends zu sprechen. Der Sinn dieser Bittgebete besteht unter anderem darin, Allah um Hilfe zu erbitten, auf dass er einen sowohl im Diesseits als auch im Jenseits schützt. Der Prophet (s) sagte in einer Überlieferung:
„Wer jeden Morgen und Abend drei Mal ‚Aʿūḏu bi kalimāti llāhi t-tāmmāti min šarri mā ḫalaq‘ sagt, dem wird nichts schaden.“[35]
Nach Ibn Ḥaǧar nutzen diese Bittgebete aber nur demjenigen, der ein reines und gläubiges Herz hat, der rechtschaffen ist und Allah ständig um Vergebung bittet.[36] So soll jeder Muslim dieses Bittgebet während des Coronavirus jeden Morgen sagen und hiermit Allah um Schutz bitten. Sicherlich sollte der Muslim sich auch nicht in die Gefahr bringen, angesteckt zu werden. So sollte er sich nicht an ihn gefährdenden Örtlichkeiten aufhalten. Der folgende Hadith kann als Beleg dafür zitiert werden:
„Fliehe vor einem Leprakranken, so wie du vor einem Löwen fliehst.“[37]
Diese Vorkehrungen stehen also nicht im Widerspruch zum tawakkul, dem Vertrauen auf Allah, dass ihm ohne Allahs Vorherbestimmung und Willen nichts treffen wird.
Verneint die Sunna Ansteckung?
Es gibt authentische Berichte des Propheten (ṣ), die anscheinend eine Ansteckung verneinen, vor allem seine Aussage:
„Es gibt keine Ansteckung, kein schlechtes Omen, keine Vogelschau, keine Eule (als ominöser Totenvogel). Und flieh vor dem Leprakranken, sowie du vor einem Löwen fliehst.“[38]
Zudem wird authentisch überliefert, dass der Prophet (ṣ) sagte:
„Kein Gesundes (Kamel) soll in die Nähe eines Kranken gebracht werden.“[39]
Laut den Hadithgelehrten handelt es sich hierbei um einen scheinbaren Widerspruch. Denn die Gelehrten sind sich einig, dass sich Überlieferungen nicht widersprechen. Deshalb ist die Sprache von einem scheinbaren Widerspruch, um zu zeigen, dass ein solcher Widerspruch in den Texten nicht real ist. Ibn Ḥaǧar stellt die verschiedenen Interpretationen der Gelehrten auf, nachdem er kurz bemerkt hat, dass einige Gelehrten den Weg eingeschlagen haben, eine Reihe von Berichten zugunsten der anderen aufzuheben, durch Aufhebung (nasḫ) oder basierend auf der Schwächung einer Reihe von Berichten im Vergleich zu anderen (tarǧīḥ). Er sagt, dass keine dieser beiden Möglichkeiten angesichts der Möglichkeit, sie gemeinsam zu lesen, akzeptabel sei (ǧamʿ) Zu den wichtigsten Ansätzen gehören folgende[40]:
1. Die Verneinung der Ansteckung ist absolut. Der Rat, vor dem Leprakranken zu fliehen, ist auf das Wohl letzteren ausgerichtet: Er fühlt sich schlechter, wenn er Menschen mit gesundem Körper sieht, also ist es besser, das zu vermeiden.
2. Die Negierung der Ansteckung und der Befehl, von der Ansteckungsgefahr zu fliehen, sind in zwei verschiedenen Situationen anzuwenden. Manche haben großes Vertrauen auf Allah und wissen, dass sie nichts treffen kann, außer mit Allahs Erlaubnis. Für sie gilt die Negierung der Ansteckung, welche für diejenigen gleichgültig wäre und mit jeder Bestimmung zufrieden wären. Sie wissen, dass sie nichts treffen kann außer durch Allahs Erlaubnis. Andere haben ein schwaches Vertrauen, deshalb sollen sie fliehen. Denn, im Falle einer Ansteckung, würden sie die Tatsache vergessen, dass dies nur mit Allahs Erlaubnis geschehe und die Ansteckung als eigenständig/naturgemäß ansehen.
3. Leprakranke stellen eine Ausnahme von der Negierung der Ansteckung dar, wohingegen an letzterer festgehalten wird. Diesen Ansatz bevorzugte al-Bāqillānī.
4. Der Befehl des Fliehens von einem Leprakranken ist nicht aufgrund der herkömmlichen Ansteckung. Denn um von einem Leprakranken angesteckt zu werden, muss längerer körperlicher Kontakt und die Möglichkeit des Riechens seines Geruchs vorhanden sein. Dies ist anders als bei der Pest, bei der es keinen körperlichen Kontakt erfordert, um angesteckt zu werden. Um aber den Verdacht aufzuheben, dass wenn jemand aus einem Land der Pest flieht, und sich dadurch von der Ansteckungsgefahr schont und er dabei die Vorherbestimmung Allahs außer Acht lässt, wollte der Prophet (ṣ) mit dieser Aussage zum Ausdruck bringen, dass es keine Ansteckung gebe, ehe es Allah nicht möchte. Diesen Ansatz brachte Ibn Qutayba.
5. Mit der Negierung ist gemeint, dass eine ansteckende Krankheit nicht eigenständig anstecken kann, sondern sie hängt allein von der Vorherbestimmung und vom Willen Allahs ab. Oft ist es der Fall, dass Menschen Kontakt mit kranken Menschen haben, einige angesteckt werden, andere wiederum nicht.
6. Die Negierung ist absolut zu verstehen. Das heißt, laut diesem Ansatz, gibt es keine Ansteckung. Der Befehl, von einem Leprakranken zu fliehen, ist so zu verstehen, dass jemand nicht denkt, es gäbe Ansteckung, wenn ein Gesunder sich in der Nähe von einem Kranken befindet und durch Allahs Vorherbestimmung gerade zu diesem Zeit und an diesem Ort die gleiche Krankheit bekommt.
7. Ibn Ḫuzayma und aṭ-Ṭaḥāwī sind der Ansicht, dass der Befehl, vor dem Leprakranken zu fliehen, so zu verstehen ist, dass falls ein Gesunder einen Kranken besucht und durch Allahs Vorherbestimmung krank wird, er nicht sagt: „Hätte ich mich nicht in die Nähe des Kranken begeben, so wäre ich verschont geblieben.“ Denn wenn Allah eine Krankheit für jemanden bestimmt, so wird er diese unter jedem Umstand und unter allen Schutzvorkehrungen bekommen.
8. Andere Gelehrte sagen, dass der Befehl zu fliehen nicht bindend ist, das heißt man ist nicht verpflichtet zu fliehen, da es keine Ansteckung gibt, außer durch Allahs Erlaubnis.
Alle diese Ansätze weisen eine Ähnlichkeit auf, nämlich dass es keine Ansteckung ohne Allahs Vorherbestimmung und Willen geben kann. Genau dies wollte der Prophet (ṣ) seinen Gefährten klarstellen, indem er auch einen klaren Hinweis gab, dass die Ansteckung von einem Leprakranken stattfinden kann, und deshalb anordnete zu fliehen. Er verneinte auch gleichzeitig alle Formen des bösen Omens, welche sehr verbreitete Glauben in der vorislamischen Zeit (ǧāhiliyyah) waren. Vor dem Hintergrund heutiger Erkenntnisse ist auch eine absolute Negation der Ansteckung höchst fragwürdig. Denn, in Bezug auf Viren und das Coronavirus, so ist es wissenschaftlich bewiesen, dass diese Krankheit in der Regel ansteckend ist und die Viren übertragbar sind. Dies kann aber nur geschehen, wenn Allah die Ansteckung für jemand vorherbestimmt hat. Deshalb sollte ein Muslim, der von solch einem Virus befallen ist, die feste Überzeugung tragen, dass dies Allahs Bestimmung war und dass er nur durch Seine Erlaubnis krank wurde. Ein solche Interpretation wäre also gemäß heutigen Erkenntnissen richtiger und behebt zugleich den scheinbaren Widerspruch in dem Hadith. Doch Allah weiß es am besten!
Epidemien als Zeichen des Jüngsten Tages
Der Prophetengefährte ʿAwf b. Mālik berichtete:
Ich ging zum Propheten (ṣ) zur Zeit der Schlacht von Tabuk, während er in einem Zelt aus Leder saß. Er sagte: „Erachtet 6 Zeichen, welche das Eintreffen der Stunde indizieren: mein Tod, die Eroberung Jerusalems, eine tödliche Epidemie, die euch treffen wird (und zu vielen Toden von euch führen wird), so wie die Pest, die die Schafe trifft, die Vermehrung des Vermögens zu einem solchen Ausmaß, dass selbst, wenn einer Person 100 Dinar gegeben wird, sie immer noch nicht zufrieden sein wird; dann eine Heimsuchung, dem kein arabisches Haus entfliehen wird, und dann ein Waffenstillstand zwischen euch und den Banī al-ʾaṣfar (Byzantinern), die euch verraten werden und euch unter 8 Fahnen angreifen werden. Unter jeder Fahne werden 12.000 Männer/Soldaten sein.“[41]
In diesem Hadith werden einige Zeichen für den jüngsten Tag aufgezählt, darunter auch eine tödliche Epidemie, die ausbrechen wird. Ibn Ḥaǧar ist der Ansicht, dass mit dieser Epidemie diejenige des ṭāʿūn von Emmaus in der Levante gemeint ist.[42]
Warum Epidemien ausbrechen können
Es wird berichtet, dass ʿAbdullāh b. ʿUmar sagte:
Der Gesandte Allāhs (ṣ) kehrte sich zu uns und sagte: „Oh ihr Auswanderer (muhāǧirūn) – Fünf Dinge; wenn ihr von diesen heimgesucht werdet – und ich nehme meine Zuflucht zu Allah davor, dass diese euch erreichen –: Niemals erscheinen bei einem Volk Schandtaten (al-fāḥiša), die öffentlich begangen werden, außer dass sich unter ihnen Seuchen und Qualen verbreiten, die es in der Zeit ihrer Vorfahren nicht gegeben hat. Jedes Mal, wenn sie Maß und Gewicht verkürzen, werden sie mit Dürrejahren, Mangel an Vorräten und Tyrannei der Herrscher ergriffen. Und immer, wenn sie die Almosen (zakāt) verweigern, wird der Regen vom Himmel abgehalten. Wären da die Tiere nicht, würde es gar nicht regnen. Jedes Mal, wenn sie den Bund Allahs und den Bund seines Gesandten brechen, gibt Allah einem Feind aus einer anderen Mitte Macht über sie, worauf dann einiges aus ihren Händen genommen wird. Und solange nicht ihre Herrscher mit dem Buch Allahs richten und vorzugsweise das wählen, was Allah (als Offenbarung) herabgesandt hat, lässt Allah ihre Gewalt gegeneinander hervortreten.”[43]
Interessant ist auch, was der bekannte Gelehrte und Soziologe Ibn Ḫaldūn schrieb:
„Was der großen Todesanzahl angeht, so ist dies entweder auf die vielen Hungersnöte – wie erwähnt – zurückzuführen oder auf die vielen Versuchungen (durch Bürgerkriege) aufgrund fehlender Staatsmacht oder durch Epidemien…“[44]
Einige islamrechtliche Regelungen bezüglich Epidemien
Geographische Quarantäne aus islamischer Sicht
Die Gelehrten haben Meinungsunterschiede über das islamische Rechtsurteil bezüglich des Verlassens eines Ortes oder das Einreisen, in dem eine Epidemie des ṭāʿūn ausgebrochen ist. Die Grundlage hierfür ist der Hadith:
„…Wer über einen Ausbruch des ṭāʿūn in einem Land (Ort) hört, so sollte er nicht in dieses Land einreisen, und wenn die Pest in einem Land ausbricht, in dem man sich bereits befindet, so sollte man nicht von diesem Land ausreisen, um der Epidemie zu entfliehen.“[45]
Mit Land ist hier der unmittelbare Ort gemeint, in dem Epidemie ausgebrochen ist und nicht das ganze Land. Die meisten Gelehrten sind der Ansicht, dass dies verboten ist; unter anderem belegen sie das durch die offensichtliche (ẓāhir) Bedeutung des Hadith.[46] In einigen Hadithen wird das Fliehen aus Angst von dem ṭāʿūn sogar mit Fahnenflucht gleichgestellt, welche als große Sünde erachtet wird.[47] Imām Malik wird die Meinung zugeschrieben, dass er das Fliehen aus einem mit ṭāʿūn befallenen Ort nicht als verboten ansah. Dies sieht er als ein Verbot, welches eine erzieherische und pädagogische Empfehlung (iršād wa taʾdīb) beinhaltet. Solche Empfehlungen oder Verbote werden laut ihm in der Regel nur als empfehlenswert/verpönt angesehen.[48]
Was das Verlassen des Ortes für medizinische Behandlung oder Wissenserwerb oder Ähnliches anbelangt, so sind sich die Fiqh-Gelehrten einig, dass dies erlaubt sei.[49]
Da in diesem Hadith nur eine spezifische epidemische Krankheit (at-ṭāʿūn) erwähnt wird, stellt sich die Frage, ob es eine Sünde ist, vor anderen Epidemien zu fliehen. Andere Epidemien könnten unter diesem Gesichtspunkt gemäß Analogieschluss das gleiche Urteil bekommen. Jedoch steht – wie erwähnt – dem entgegen, dass der aṭ-ṭāʿūn auch verschiedene Vorzüglichkeiten hat, welche andere epidemischen Krankheiten nicht teilen und per Analogie nicht zu erschließen sind. Zum Beispiel war diese spezifische Epidemie als Barmherzigkeit für die Gläubigen in den Hadithen beschrieben und die daran Gefallenen als Märtyrer bezeichnet, weshalb das Fliehen vor ihr für die Gläubigen nicht vorteilhaft wäre. Laut as-Suyūṭī ist es sogar per Konsens erlaubt, von einem Ort zu fliehen, welcher von einer anderen epidemischen Krankheit als aṭ-ṭāʿūn befallen wurde.[50] Dennoch gibt es Gelehrte, die die Quarantäne aus solchen Hadithen herleiten, da in diesem Aspekt eine ʿillah ersichtlich ist, nämlich die Ansteckungsgefahr. Was jedoch Regierungen regeln, seien es islamische oder nichtislamische, so sind diese Regulierungen auch für Muslime bindend, ungeachtet der Art der Krankheit, wie es zum Beispiel der Fall beim Coronavirus ist.
Regelungen in Bezug auf das Gebet
Spezielle Gebet zum Aufheben der Epidemien
Es wird überliefert, dass der Prophet (ṣ) ein spezielles Gebet mit seinen Gefährten betete, als es eine Sonnenfinsternis gab.[51] Nun stellt sich die Frage, ob solch ein Gebet auch für andere beängstigende oder katastrophalen Anlässe erlaubt ist. Laut der hanafitischen Rechtschule ist erlaubt, für jeden ähnlichen Anlass, wie Angst, Stürme, Erdbeben und starken Regen zu beten.[52] Als Beleg ziehen sie die Handlung von Ibn ʿAbbās heran. Er betete in Basra, als es Erdbeben gab.[53] Die hanbalitische Rechtschule ist der Ansicht, dass es nicht rechtmäßig ist, ein bestimmtes Gebet zu beten, außer das bei Sonnenfinsternis und gegen andauerndes Erdbeben.[54] Auch sie bezieht sich in dieser Ausnahme auf den Hadith und die Handlung von Ibn Abbas; da anderes nicht überliefert wurde, sollten keine eigenständigen Gebetsgründe erfunden werden. Die Schafiiten sind der Ansicht, dass nur bei Sonnenfinsternis in der Gemeinschaft gebetet werden darf. Jeder sollte aber zu Hause für solche Anlässe beten und Allah darum bitten, diese Krisen aufzuheben.[55] Ihre Beweisführung beschränkt sich auf den Hadith. Die Malikiten sind der Ansicht, dass auch für die Sonnenfinsternis kein Gebet verrichtet werden soll. Dafür mangelt es ihnen an Beweisen. Allerdings wurde von einigen der Malikiten überliefert, dass es für Epidemien erwünscht ist, zu beten. Sie zählen es als Gebet, die mit bestimmten Anlässen verbunden sind (ṣalāt ḏāt as-sabab).[56]
Qunūt–Dua im Gebet zur Aufhebung von Epidemien
Die Mehrheit der Gelehrten (Hanafiten, Malikiten, Schafiiten) sind der Ansicht, dass es erwünscht ist, qunūt im Gebet für Anlässe wie Epidemien zu beten.[57] Hierfür stützen sie sich auf die Überlieferung, in der berichtet wird, dass der Prophet (ṣ), als er in Medina ankam, betete, eine vorhandene Epidemie aufzuheben und sie nach al-ǧuḥfah zu verleiten.[58] Des Weiteren gehören Epidemien zu den größten Krisen, sodass es wünschenswert ist, den qunūt dafür zu beten. Die Hanbaliten hingegen sind der Meinung, dass es nicht rechtmäßig ist, den qunūt dafür zu beten. Als Argument hierfür ziehen sie die Handlung vom Kalifen ʿUmar heran. Als bei ihnen die ṭāʿūn-Epidemie ausbrach, verrichteten sie kein qunūt im Gebet.[59] Diese Argumentation ist aber fragwürdig, da die Tatsache, dass nichts überliefert wurde, kein Beweis sein muss, dass es tatsächlich nicht stattfand. Basierend hierauf wäre es rechtmäßig auch während der Corona-Pandemie qunūt zu beten.
Bittgebete
In jeder Krisensituation sollte ein Muslim Bittgebete für sich allein sprechen. Hierfür sollten vor allem die Zeiten ausgewählt werden, in denen überliefert wurde, dass Bittgebete darin nicht abgelehnt werden, wie zum Beispiel zwischen dem aḏān und der iqāmah.
Es ist allerdings nicht erlaubt, in der Gemeinschaft ein spezielles Gebet für die Aufhebung einer Epidemie zu verrichten. Ibn Ḥaǧar wertet dies als eine Erneuerung, und schildert folgendes Ereignis, welches nicht rechtmäßig war und sie dafür schwere Folgen hatte. Als im Jahre 749 H. eine Pest die Stadt Damaskus heimsuchte, beschloss die Mehrheit der Senioren der Stadt nach draußen zu gehen und dort ein spezielles Gebet und Bittgebet zusammen zu verrichten. Doch nach diesem speziellen Gebet verschlimmerte sich die Pest tatsächlich und der Tod nahm zu, obwohl es besser war, bevor sie alle (aus den Häusern) rausgegangen waren. Ibn Ḥaǧar kommentiert, dass er im Jahre 833 H. auch Zeuge war, dass eine Pest nach Kairo kam und zu dieser Zeit weniger als 40 Menschen pro Tag starben. Die Menschen beschlossen, eine große Versammlung zu organisieren, um ein gemeinsames Gebet in der Wüste außerhalb der Stadt zu verrichten. Sie gingen alle hinaus und versammelten sich, um eine Weile zu beten, und kehrten dann zurück. Innerhalb von (wenigen) Wochen nach dieser Versammlung starben täglich über Tausende von Menschen oder noch mehr.[60]
Regelungen in Bezug auf Bestattungen von Leichen, die aufgrund Epidemien gestorben sind
Todeswaschung
Die malikitischen Gelehrten erwähnen, dass wenn die Anzahl der Toten zu hoch ist und es schwer ist, Menschen zu finden, die die Todeswaschung durchführen können, es erlaubt ist, sie ohne Todeswaschung zu begraben.[61]
Mehrere Leichen in einem Grab begraben
Grundsätzlich sollten Leichen alleine begraben werden. Es herrscht Konsens unter den Gelehrten, dass es nicht erlaubt ist, mehrere Leichen in einem Grab zu begraben, außer in einem Notstand (ḍarūra).[62] Als Not werden Epidemien und eine zu hohe Todesanzahl durch verschiedene Gründe aufgezählt. Auch Platzmangel in einem Friedhof wird als Notstand gewertet.[63] Die Vorgehensweise des Propheten (ṣ) mit den Märtyrern von uḥud wird hier als Grundlage genommen. Er befahl seinen Gefährten, zwei oder drei Leichen in ein Grab zu legen.[64] Laut diesen Gelehrten handelte der Prophet (s) aus der Notwendigkeit heraus. So können auch verstorbene aufgrund des Coronavirus so begraben werden, wenn es einen Notstand gibt.
Regelungen bezüglich Umra und Hadsch
Ein muḥrim ist verpflichtet, bestimmte Vorschriften bezüglich Kleidung zu beachten. Es ist weder für einen Mann noch für eine Frau erlaubt, Handschuhe zu tragen. Nur, wenn es eine Notwendigkeit gibt, wie zum Beispiel während Epidemien, um sich vor Ansteckungen zu schützen, kann man Handschuhe anziehen und muss dafür ein Opfertier schlachten (fidyat ul-ʾaḏā).[65] Das Gleiche gilt auch für Masken für Frauen, da sie keine Gesichtsbedeckung währen der Umra tragen dürfen.
Regelungen in Bezug auf das Erben
In der Regel darf ein geistlich gesunder Mensch mit seinem Eigentum wie er möchte vorgehen. Darüber hinaus besteht auch Konsens, dass jemand im Sterbebett nicht mehr als ein Drittel seines Eigentums schenken, spenden oder per Testament abgeben darf.[66] Hierzu werden mehrere Hadithe aufgeführt. Zu den Weisheiten dieser Regelung gehört, dass wenn jemand im Sterbebett liegt, sein Eigentum bereit zum Erben liegt und dort jeder seiner Familienangehörigen sein Recht bekommen muss, wobei das Spenden in dieser Zeit diese Rechte schaden würde.
Nun stellt sich die Frage, ob es auch erlaubt ist, während einer Epidemie frei über das Eigentum zu verfügen. Einige Fiqh-Gelehrten sind der Ansicht, dass man auch während einer Epidemie nur über ein Drittel des Eigentums verfügen darf, ungeachtet der Tatsache, ob man infiziert ist oder nicht.[67] Einige setzen voraus, dass Experten die Epidemie bewerten. Wenn die Wahrscheinlichkeit des Sterbens hoch ist, so wird die 1/3-Regel angewendet, ansonsten nicht.[68] Basierend darauf findet diese Regel in der aktuellen Lage mit dem Coronavirus keine Anwendung, da die Wahrscheinlichkeit des Sterbens sehr gering ist.
Was das Erben anbelangt, wenn mehrere Familienangehörige sterben
Zu den Bedingungen des gültigen Erbens gehört es, dass der Eigentümer tatsächlich gestorben ist und der Erbe lebt. Problematisch wird es, wenn alle zusammen sterben und man nicht genau weiß, welcher als erster starb. Dies ist jedoch für das Aufteilen der Erbschaft entscheidend. Wie das Aufteilen geschieht wird hier nicht erläutert. Die Gelehrten erwähnen in diesem Zusammenhang mehrere Fälle:
1. Wenn bekannt ist, wer als Erster gestorben ist. So erbt der danach Verstorbene den ersten. Hierbei sind sich die Gelehrten einig (Konsens).[69]
2. Wenn bekannt ist, dass beide gleichzeitig starben, findet kein Erben zwischen ihnen statt. Das bedeutet, die dass die lebenden Familienangehörigen direkt erben.[70]
3. Wenn nicht bekannt ist, wer als Erster gestorben ist. Hier gibt es Meinungsunterschiede. Abu Hanifa, Malik, aš-Šāfiʿī sind der Ansicht, dass sie sich gegenseitig nicht erben und dass die Erbschaft an die jeweiligen Familienangehörigen aufgeteilt wird.[71] Dies, aufgrund der Ungewissheit, wer als erster gestorben ist. Deshalb fällt die Erbschaft hier aus und geht zum nächsten Erbe weiter. Einige Gefährten und Imām Aḥmad waren der Meinung, dass sie sich gegenseitig erben. Allerdings wird hier nur das Eigentum geerbt, was die Verstorbenen während ihres Lebens hatten (at-talīd) und nicht, das was sie von dem anderen Verstorbenen jeweils erhielten (aṭ-ṭarīf) da sich der Erbprozess in diesem Fall in einem Kreislauf bewegen würde.[72]
„Und was immer euch an Unglück trifft, es ist für das, was eure Hände erworben haben. Und Er verzeiht vieles.“ Sure 42 ,Vers 30.
[1] Koran, Sure 16, Vers 89.
[2] In den Hadithsammlungen finden wir unterschiedliche Kapitel, die zum Thema Krankheiten und explizit einige Epidemien erwähnen. Das erste uns bekannte verfasste Buch ist von Ibn Abī ad-Dunya (gest. 281 H.) Kitāb aṭ-ṭawāʿīn, ihm folgte Taǧ ad-Dīn as-Subkī (gest. 771 H.) mit Ǧuzʾ fī aṭ-ṭāʿūn und danach wurden exklusive den heutigen wissenschaftlichen Abhandlungen mehr als fünfzehn Bücher über Epidemien aus islamischer Sicht verfasst. Vgl. Aḥmad al-Kātib: Muqaddima taḥqīq baḏl al-māʿūn, S. 32 ff.
[3] vgl. Ibn Ḥaǧar: Fatḥ al-Bārī, Bd. 10, S. 178.
[4] Ibid.
[5] Muʿǧam al-luġah al-ʿarabiyyah, Bd. 3, S. 2392.
[6] Robert Koch-Institut: Infektionsschutz und Infektionsepidemologie – Fachwörter – Definitionen – Interpretationen, S. 34.
[7] http://www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/news/news/2020/3/who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic (06.04.2020).
[8] Vgl. al-Ǧawharī: aṣ-Ṣiḥāḥ, Bd. 6, S. 2158; Ibn al-Mulaqqin: at-Tawḍīḥ, Bd. 6, S. 434; al-Qurṭubī: al-Mufhim, Bd. 3, S. 757; al-ʿAynī: ʿUmdat ul-qāriʾ, Bd. 5, S. 171.
[9] Vgl. Ibn Ḥaǧar: Baḏl al-māʿūn fī faḍl aṭ-ṭāʿūn, S. 104.
[10] Vgl. an-Nawawī: al-Minhāǧ, Bd. 1, S. 105 und Ibn Ḥaǧar: Fatḥ al-Bārī, Bd. 10, S. 180.
[11] Vgl. Fatḥ al-Bārī, Bd. 10, S. 181.
[12] Vgl. Ibn Ḥaǧar: Baḏl al-māʿūn fī faḍl aṭ-ṭāʿūn, S. 107. Hier werden die verschiedenen Überlieferungswege aufgezählt und von Ibn Ḥaǧar sehr detailliert durchleuchtet.
[13] Vgl. Ibn Ḥaǧar: Baḏl al-māʿūn, S. 361. An der angegeben Stelle werden viele Epidemien aufgelistet, die in der islamischen Geschichte auftraten.
[14] Diese hier abgekürzte Geschichte wird in der kompletten Form bei Ṣaḥīḥ al-Buḫārī Nr. 5729 und Ṣaḥīḥ Muslim Nr. 2219 überliefert.
[15] Ibn Ḥaǧar: al-Fatḥ, Bd. 7, S. 93.
[16] Al-Buḫārī Nr. 3176.
[17] Vgl. Ibn Ǧarīr: Tārīḫ aṭ-ṭabarī Bd. 5, S. 612. Laut Ibn Kaṯīr und aḏ-Ḏahabī war es im Jahr 69 H. Vgl. Ibn Kaṯīr: al-Bidāyah wa-n-nihāyah, Bd. 8, S. 288.
[18] Ibn al-Ǧawzī: al-Muntaẓam fī tārīḫ al-mulūk wa al-ʾumam, Bd. 6, S. 25.
[19] Ibn Taġribirdī: an-Nuǧūm az-zāhira, Bd. 1, S. 224.
[20] Taqiyyuddin al-Miqrīzī: Imtaʿ al-ʾasmāʿ, Bd. 12, S. 261.
[21] Ibid. Bd. 6, S. 26.
[22] https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzer_Tod
[23] Ibn Ḥaǧar: Baḏl al-māʿūn, S. 224.
[24] al-Buḫārī Nr. 1880, Muslim Nr. 1379.
[25] Eine damals kaum bewohnte Gegend, ca. 120 km nördlich von Jedda.
[26] al-Buḫārī Nr. 1988.
[27] al-Buḫārī Nr. 2643. Vgl. Auch: Ibn Ḥaǧar: Baḏl al-māʿūn, S. 104.
[28] al-Buḫārī Nr. 7134
[29] Vgl. al-Fatḥ, Bd. 10, S. 190 und Bd. 13, S. 105.
[30] Ibid. Bd. 3, S. 191.
[31] Al-Mizzī: Tahḏīb al-kamāl, Bd. 23, S. 319.
[32] al-Buḫārī Nr. 6974
[33] al-Buḫārī Nr. 5402.
[34] Glaubensinhalte müssen direkt aus dem Koran und der Sunna entnommen werden ohne Analogieschlüsse, da es sich um verborgene Angelegenheiten handelt (ʾumūr al-ġayb), und diese keine ʿillal haben.
[35] al-Buḫārī: al-ʾAdab al-mufrad, Nr. 660.
[36] Ibn Ḥaǧar: Baḏl al-māʿūn, S. 171.
[37] al-Buḫārī Nr. 5380.
[38] al-Buḫārī Nr. 5707.
[39] al-Buḫārī Nr. 5774.
[40] Vgl. für die detaillierte Aufzählung Ibn Ḥaǧar: al-Fatḥ, Bd. 10, S. 158-163.
[41] al-Buḫārī Nr. 3176.
[42] Ibn Ḥaǧar: al-Fatḥ, Bd. 6, S. 278.
[43] Ibn Māǧah: as-Sunan Nr. 4019.
[44] Ibn Ḫaldūn: at-Tārīḫ, Bd. 1, S. 238.
[45] al-Buḫārī Nr. 3286.
[46] Vgl. at-Taḥṭāwi: al-Ḥāšya, Bd. 1, S. 547; an-Nawawī: al-Maǧmūʿ, Bd. 5, S. 322. Der bekannte andalusische Gelehrte Ibn ʿAbdilbarr und as-Subkī bestätigen diese Meinung. Vgl. Ibn Ḥaǧar: Baḏl al-māʿūn, S. 269.
[47] Vgl. Aḥmad: al-Musnad Nr. 24527.
[48] Vgl. Ibn ʿAbdilbarr: at-Tamhīd, Bd. 21, S. 183; al-Qarāfī: aḏ-Ḏaḫīra, Bd. 13, S. 325.
[49] al-Qarāfī: aḏ-Ḏaḫīra, Bd. 13, S. 325; an-Nawawī: al-Minhāǧ, Bd. 14, S. 207; Ibn Ḥaǧar: al-Fatḥ, Bd. 6. S. 520.
[50] Ibn Ḥaǧar al-Haytamī: al-Fatāwā al-kubrā, Bd. 4, S. 11.
[51] al-Buḫārī Nr. 1044 und Muslim Nr. 901.
[52] Vgl. al-Kāsānī: Badāʿi aṣ-ṣanāʿi, Bd. 1, S. 282.
[53] Vgl. Ibn Abī Šaybah: al-Muṣannaf, Bd. 2, S. 472.
[54] Vgl. al-Mardāwī: al-Inṣāf 5/405.
[55] Vgl. an-Nawawī: Al-Maǧmūʿ, Bd. 5, S. 44.
[56] Vgl. ad-Dawsaqī: al-Ḥāšyah, Bd. 1, S. 308.
[57] Vgl. Ibn ʿĀbidīn: Radd al-muḥtār, Bd. 2, S.11; ad-Dawsaqī: al-Ḥāšiyah, Bd. 1, S. 308; Ibn Ḥaǧar al-Haytamī: Tuḥfat ul-muḥtāǧ, Bd. 2, S. 68.
[58] Vgl. al-Buḫārī Nr. 5677 und Muslim Nr. 1376.
[59] Vgl. Ibn al-Mufliḥ: al-Furūʿ Bd. 2, S. 367.
[60] Ibn Ḥaǧar: Baḏl al-māʿūn, S. 329.
[61] Vgl. al-Qarāfī: aḏ-Ḏaḫīra, Bd. 2, S. 450.
[62] Vgl. Ibn Qudāmah: al-Muġnī, Bd. 2, S. 420.
[63] Vgl. az-Zuhailī: al-Fiqh al-islāmī wa adillatuhu, Bd. 2, S. 1560.
[64] Vgl. Abu Dāwūd Nr. 3215 und weitere.
[65] Ibn Qudāmah: al-Muġnī, Bd. 5, S. 120.
[66] Ibn al-Munḏir: al-Iǧmāʿ S. 77; Ibn Qudāmah: al-Muġnī Bd. 8, S. 473.
[67] Vgl. Ibn Ḥaǧar al-Haytamī: al-Fatāwā al-kubrā, Bd. 4, S. 14.
[68] Ibn Qudāmah: al-Muġnī, Bd. 6, S. 109.
[69] Ibn Ḥazm: Marātib al-iǧmāʿ S. 179.
[70] Ibn Qudāmah: al-Muġnī, Bd. 6, S. 381.
[71] Vgl. as-Saraḫsī: al-Mabṣūṭ, Bd. 30, S. 28; al-Qāḍī ʿAbdulwahhāb: at-Talqīn, Bd. 2, S. 220; al-Māwardī: al-Ḥāwī al-kabīr, Bd. 8, S. 87.
[72] Vgl. Ibn Qudāmah: al-Muġnī, Bd. 6, S. 378.