Einführung in die Hadithwissenschaften
Abstract
Dieser Beitrag gibt dem Leser eine Einführung in die Entstehung sowie in die Disziplinen der Hadithwissenschaften. Dabei wird ein Einblick in die wichtigsten Definitionen und ihre unterschiedlichen Anwendungsgebiete gegeben, genauso wie in ihre historische Entwicklung. Das Ziel ist es, den Leser mit der Charakterisierung und dem Aufbau von Hadithen vertraut zu machen, die wichtigsten Bücher dieser Wissenschaft vorzustellen und sie in den jeweils entsprechenden Kontext einzubetten.
Lade als PDF herunter
Terminologische Begriffsbestimmung von ‚Hadith‘
Das arabische Wort ḥadīṯ (Pl. aḥādīṯ) ist ein in der arabischen Sprache bekanntes und häufig verwendetes Wort, das bereits in der vorislamischen Zeit vor allem in der Dichtung Verwendung fand. Der Stamm des Wortes besteht aus den Buchstaben (ḥ d ṯ – ح د ث) und deutet immer auf ein neu auftretendes, vorher nicht existentes Ereignis hin.[1] Dazu gehören ganz allgemein Mitteilungen, Erzählungen und Gespräche – unabhängig davon, ob es sich bei ihnen um Religiöses, Vergangenes oder Gegenwärtiges handelt. ‚Hadith‘ taucht in seinen unterschiedlichen Variationen insgesamt 23-mal im Koran auf.[2] Eine der Bedeutungen zeigt sich in dem Vers „Und wenn du diejenigen siehst, die auf Unsere Zeichen (spottend) eingehen, so wende dich von ihnen ab, bis sie auf ein anderes Gespräch (ḥadīṯin ġayrihi) eingehen…“[3]. Die Bedeutung ‚Geschichte‘ hat es in dem Vers „Ist zu dir die Geschichte Musas (ḥadīṯu Mūsā) gekommen?“[4]
Im üblichen Sprachgebrauch des Propheten Muḥammad (s) treffen wir auf unterschiedliche Verwendungen des Wortes. Die überlieferte Aussage des Gesandten (s) „Die beste Botschaft (aḥsan-al-ḥadīṯi) ist Allāhs Buch“[5], ist ein Beispiel für die Verwendung des Begriffes innerhalb der Sunna, um eine ‚Mitteilung‘ zum Ausdruck zu bringen. In der Bedeutung von ‚Erzählung‘ kommt es in der Aussage „Erzählt (ḥaddiṯū ʿan banī ʾisrāʾīl) von den Kindern Israels, ohne Befangenheit“[6] vor. Auch wenn das Wort ‚Hadith‘ in den beiden Quelltexten des Islams und in der vorislamischen Zeit in verschiedenen Bedeutungen vorkommt, so wurde es doch schon zur Zeit des Propheten Muḥammad (s) überwiegend als Bezeichnung für eine seiner Erzählungen verwendet.[7]
Fachspezifisch wird ein Hadith definiert als ‚Worte (aqwāl, Sg. qawl) oder Handlungen (afʿāl, Sg. fiʿl), die dem Propheten Muḥammad (s) zugeschrieben werden, oder das, was er stillschweigend (Pl. iqrārāt, Sg. iqrār) geschehen ließ. Auch Aussagen über seine körperlichen und charakterlichen Eigenschaften gehören zur fachspezifischen Definition von Hadith.‘[8] Dazu zählen auch Berichte über den Propheten (s), die aus der Zeit vor der ersten Offenbarung stammen.[9] Die Gesamtheit dieser Hadithe wird als Sunna bezeichnet. Die einzelnen Hadithe sind zwar durch Individualität gekennzeichnet, dennoch lassen sie sich auf einer meta-strukturellen Ebene als Teil eines in sich stimmigen ‚Ganzen‘ begreifen.
Auch wenn sich die fachspezifische Definition von ḥadīṯ auf den Propheten (s) beschränkt, wird er von einigen Hadithgelehrten mitunter auch für Berichte von Prophetengefährten (aṣḥāb/ṣaḥāba, Sg. saḥābī) und ihre Nachfolger (tābiʿūn, Sg. tābiʿī) verwendet.[10] Deshalb nimmt man eine Spezifizierung vor und nennt eine Aussage des Propheten (s) ḥadīṯ marfūʿ, eine Aussage eines Gefährten ḥadīṯ mauqūf und eine Aussage eines Nachfolgers ḥadīṯ maqtūʿ.
Als Synonyme für ‚Hadith‘ werden die Worte ḫabar und aṯar benutzt. Vom linguistischen Standpunkt her ist ḫabar ein Synonym für Hadith, es ist also eine ‚Mitteilung‘, ‚Nachricht‘, und trägt die gleiche fachspezifische Bedeutung wie ‚Hadith‘, wobei einige Hadithgelehrte die Bezeichnung ‚Hadith‘ speziell für Mitteilungen über den Propheten (s) und ḫabar nur für Berichte über seine Gefährten und ihre Nachfolger verwenden. Andere Gelehrte sind dagegen der Meinung, dass ḫabar allgemeiner ist und somit für Berichte sowohl über den Propheten (s) als auch über seine Gefährten und ihre Nachfolger verwendet wird, wohingegen Hadith nur eingesetzt wird, wenn es sich um eine Mitteilung über den Propheten (s) handelt.[11] So ist jeder Hadith ein ḫabar, aber nicht jeder ḫabar ist ein Hadith. Im Hinblick auf die fachspezifische Definition gilt aṯar ebenso als Synonym für Hadith und bedeutet übersetzt so viel wie ‚eine Spur‘. Auch hier sind einige Gelehrte der Meinung, dass aṯar Berichte über den Propheten (s) und andere einschließt, wohingegen Gelehrte aus dem Chorasan aṯar hauptsächlich für Berichte über die Gefährten verwenden.[12]
Aufbau eines Hadiths
Ein Hadith besteht aus zwei Hauptelementen:
1. der Tradentenkette/Überlieferungskette (Sg. isnād/sanad, Pl. asānīd, ‚Stütze‘) und
2. der Mitteilung/Aussage (Sg. matn, Pl. mutūn, ‚Aussage‘). Meist wird er zusammen mit einer Rahmenhandlung überliefert. Dazu gehört zum Beispiel die Aussage ‚Der Prophet (s) sagte‘. [13]
Al-Buḫārī (gest. 256/870) überliefert beispielsweise diesen Hadith:
Uns erzählte al-Ḥumaydī ʿAbdullāh b. az-Zubayr: er sagte Sufyān berichtete uns: Yaḥyā b. Saʿīd al-Anṣārī erzählte mir: Muḥammad b. Ibrāhīm at-Taymī hörte: ʿAlqamah b. Waqqāṣ al-Layṯī sagte: ich hörte ʿUmar b. al-Ḥaṭṭāb (r) der sagte [Tradentenkette]: „Ich hörte den Gesandten Allahs (s) sagen [Rahmenhandlung]: „Die Taten sind entsprechend den Absichten, und jedem Menschen (gebührt), was er beabsichtigt hat…“ [Aussage].[14]
Themenbereiche der Hadithe
Thematisch lassen sich Hadithe in unterschiedliche Themengebiete aufteilen. Einige betreffen theologische Aspekte (ʿaqīdah), andere sind eher normgebender Natur (aḥkām). Letztere lassen sich dann weiter kategorisieren, indem sie beispielsweise gottesdienstlichen (aḥkām al-ʿibādāt) oder zwischenmenschliche Handlungen (aḥkām al-muʿāmalāt) zugeordnet werden. Darüber hinaus existieren Überlieferungen über die Feldzüge (al-maġāzī) des Propheten (s), aber auch solche, die über die Geschehnisse der Endzeit berichten (al-fitan wa al-malāḥim/ašrāṭ as-sāʿah) oder als Hilfsmittel zur Koranexegese (tafsīr) verwendet werden können.
Stellenwert der Hadithwissenschaften
Die Hadithwissenschaften gehören zu den wichtigsten Wissenschaftsdisziplinen des Islam; insbesondere da die anderen Disziplinen, wie etwa fiqh, tafsīr etc., auf die Ergebnisse der Hadithwissenschaften angewiesen sind. Ihre große Bedeutung ist aber auch damit verknüpft, dass mit ihr die Sunna des Gesandten (s) – die zweite Offenbarungsquelle des Islams – aufbewahrt und authentisch übermittelt wird. Seit der Offenbarung bereits nahm die Sunna diese wichtige Stellung ein und diente als Erklärung für den Koran. Im Koran heißt es: „Und Wir haben zu dir die Ermahnung hinabgesandt, damit du den Menschen klar machst, was ihnen offenbart worden ist.“[15]
Der Prophet (s) war also jemand, der von Gott beauftragt wurde, die Offenbarung zu erklären, weshalb die Gefährten versuchten, jede Handlung und Aussage des Propheten (s) genau zu beobachten. Hier unterschieden sich die Gefährten, manche von ihnen überlieferten mehr, andere weniger. Es wird berichtet, dass sich einige Gefährten in der Begleitung des Propheten (s) abwechselten, um den anderen Gefährten immer über den Propheten (s) berichten zu können.[16] So wurde es zu einer Gewohnheit, sich gegenseitig über den Propheten (s) zu berichten und die jeweiligen Berichte an weitere Gefährten weiterzugeben, ohne explizit zu erwähnen, ob dies direkt vom Propheten (s) oder von einem anderen Gefährten gehört wurde. So galt die Generation des Propheten (s) als die Grundlage für die Wissensübermittlung an die weiteren Generationen.
Anfänge der Hadithwissenschaften
Nachdem aber die erste Generation der Gefährten verstorben war und andere umsiedelten, musste sichergestellt werden, dass die Sunna des Propheten (s) aufbewahrt wurde, um sie an die nachfolgenden Generationen authentisch und sicher weiterzugeben. Dies fing mit der Entwicklung der systematischen und sicheren Aufzeichnung der Hadithe des Propheten (s) an. Dieser schweren und umfassenden Aufgabe widmeten sich Gelehrte, die ihr gesamtes Leben mit dem Sammeln und Tradieren von Hadithen verbrachten. Sie stellten grundlegende Regeln auf, wie schwache von authentischen Hadithen unterschieden werden konnten. Dies stellte den Anfang der Hadithwissenschaften dar.
Die Meinungen der Gelehrten gehen in Bezug darauf auseinander, wer der Erste war, der explizit über die Hadithwissenschaften geschrieben hatte. Die weitverbreitete Ansicht ist, dass Imām aš-Šāfiʿī (gest. 204/820) der erste Gelehrte war, der in seinem Werk ar-Risāla (Die Schrift) einige Regeln und Grundlagen explizit formulierte und schriftlich festhielt.[17] Dort erwähnte er beispielsweise Bedingungen dafür, wann ein Hadith als Grundlage in der Rechtsprechung und anderen Bereichen des Islams verwendet werden kann, oder fragte, ob es erlaubt sei, Hadithe sinngemäß und nicht wörtlich wiederzugeben. Darüber hinaus stellte er die Bedingung auf, dass der Tradent die überlieferten Hadithe auswendig zu kennen habe. Er beschäftigte sich auch mit der Hadithdisziplin muḫtalaf-al-ḥadīṯ (sich augenscheinlich widersprechende Hadithe). Andere Gelehrte seiner Zeit wie Abū ʿUbayd al-Qāsim b. as-Salām (gest. 224/838) schrieben Werke über die wichtige Teildisziplin ġarīb-al-ḥadīṯ (unbekannte bzw. wenig verwendete Begriffe in Hadithen). Auch der bekannte Hadithgelehrte ʿAlī b. al-Madīnī (gest. 234/848) verfasste zahlreiche Bücher über unterschiedliche Hadithdisziplinen, darunter ʿIlal al-ḥadīṯ (versteckte Hadithmängel) – eine der wichtigsten Disziplinen der Hadithwissenschaften. Aḏ-Ḏahabī (gest. 748/1348) erwähnte, dass ʿAlī b. al-Madīnī insgesamt 200 Bücher verfasst haben soll.[18] Al-Ḫaṭīb al-Baġdādī (gest. 463/1071) nannte viele Buch-Titel, auch wenn die meisten Bücher heute als verschollen zu bezeichnen sind.[19]
Eine andere wichtige Persönlichkeit, die sich mit der Hadithkritik befasste, war Yaʿqūb b. Šaybah (gest. 234/728). Ein kleiner Teil seines Hadithwerkes al-Musnad al-kabīr ist heute noch erhältlich. Dort nutzt er verschiedene Fachbegriffe, um den Grad der Glaubwürdigkeit eines jeweiligen Hadiths zu bestimmen; zum Beispiel: ḥādīṯun ḥasan-ul-isnād, wahua ṣaḥīḥ (der Hadith besitzt eine gute bzw. akzeptable Tradentenkette und ist authentisch).[20] Einflussreiche Gelehrte wie Yaḥyā b. Maʿīn (gest. 233/847), Aḥmad b. Ḥanbal (gest. 241/855), al-Buḫārī (gest. 256/870) und Muslim (gest. 261/875) verfassten ebenfalls Werke zu diesem Thema. Von Letzterem finden sich bedeutende Grundlagen der Hadithkritik in der muqaddima (Einleitung) seiner Hadithsammlung sowie zu deren Anwendung in seiner Abhandlung über Hadithkritik, at-Tamyīz (Die Unterscheidung).
Zu den bekanntesten Gelehrten zählt auch at-Tirmiḏī (gest. 279/892) mit seinen beiden Werken über Hadithkritik al-ʿIlal al-kabīr (Hadithmängel, große/ursprüngliche Fassung) und al-ʿIlal aṣ-ṣaġīr (Hadithmängel, kleine/zusammengefasste Edition). Es werden darin die bekanntesten Teildisziplinen der Hadithwissenschaften wie etwa Hadithkritik (naqd), Tradentenkritik (al-ǧarḥ wa-taʿdīl) und einige Haditharten anwendungsorientiert behandelt. Auch Abū Dāwūd (gest. 275/897) verfasste eine Erklärung zu seiner Methodik in seiner Hadithsammlung Sunan Abī Dāwūd mit dem Titel Risālat Abī Dāwūd ilā ahli Makka (Der Brief von Abū Dāwūd an die Mekkaner).
Im 3./10. Jahrhundert folgten weitere Hadithgelehrte wie Ibn Abū Ḥātim (gest. 327/938) mit Werken zu verdeckten Hadithmängeln (ʿilal), Hadithkritik (naqd) und anderen Bereichen der Hadithwissenschaften. Zu erwähnen sind hier zum Beispiel al-ʿIlal (Hadithmängel) und al-Ǧarḥ wa at-taʿdīl (Negative und positive Beurteilung von Überlieferern[21]), wobei in Letzterem u. a. bedeutende Grundlagen über die Tradentenkritik zu finden sind.
Hadithwissenschaften ab dem 4./11. Jahrhundert
Auch wenn unterschiedliche und umfangreiche Werke in den ersten Jahrhunderten verfasst wurden, die die Regeln direkt anwandten, so gab es jedoch keine, die sie in theoretischer Form auflisteten und detailliert behandelten oder ihre Terminologien beinhalteten. Dieser Aufgabe versuchte al-Ḥasan b. Ḫallād ar-Rāmahurmuzī (gest. 360/971) in seinem Buch Al-Muḥaddiṯ al-fāṣil bayna ar-rāwī wa al-wāʿī (Der unterscheidende Hadithgelehrte zwischen dem Überlieferer und dem Verstehenden*) gerecht zu werden, auch wenn er einige wichtige Teildisziplinen dieser Wissenschaft nicht explizit erwähnte. Ihm folgte Abū ʿAbdillāh al-Ḥākim (gest. 405/1012) mit Maʿrifatu ʿulūm al-ḥadīṯ (Die Kenntnis über die Hadithwissenschaften), der 52 Kategorien (nawʿ) behandelte, wobei die Struktur und die Darstellung des Aufbaus der Disziplinen von einigen Hadithgelehrten kritisiert wurde und es an der Beleuchtung grundlegender Aspekte dieser Wissenschaft mangelt. Deshalb versuchte wenig später Abū Nuʿaym al-Aṣbahānī (gest. 430/1038), das Werk al-Ḥākims zu ergänzen und verfasste die Abhandlung al–Mustaḫraǧ ʿalā ʿulūm al-ḥadīṯ li-l-Ḥākim (Die Ergänzung zum ‚die Hadithwissenschaften‘ des al-Ḥākim*). Ihm folgte der große Hadithgelehrte al-Ḥaṯīb al-Baġdādī (gest. 463/1071). Er schrieb Werke, welche vielen Gelehrten als Grundlage für ihre eigenen Schriften dienten. Zu den meistzitierten Werken in den Hadithwissenschaften gehört sein al-Kifāya fī ʿilm ar-riwāya (Das ausreichende Wissen über die Überlieferungswissenschaft).
Wende der Hadithwissenschaften
Im 7./13. Jahrhundert erlebten die Hadithwissenschaften eine Wende, als Ibn aṣ-Ṣalāḥ aṣ-Šahrazūrī (gest. 643/1265) das Buch Maʿrifatu ʿulūm al-ḥadīṯ (Die Kenntnis über die Hadithwissenschaften), besser bekannt unter dem Namen Muqaddimatu-bnu-Ṣalāḥ (Die Einleitung von Ibn aṣ-Ṣalāḥ), zusammenstellte und veröffentlichte. Er verfasste dieses Buch während er als Lehrer an der bekannten Schule Dār al-ḥadīṯ in Damaskus angestellt war. Auch wenn er sich dabei auf die Werke von al-Ḥākim und al-Ḥaṯīb al-Baġdādī stützte, wurde sein Buch von den nach ihm kommenden Hadithgelehrten als Hauptgrundlage ihrer Arbeit herangezogen. Zum Beispiel kürzte an-Nawawī (gest. 676/1277) dieses Werk und nannte es al-Iršād (Die Anleitung), welches er später nochmals zusammenfasste und mit at-Taqrīb wa at-taysīr (Die Annäherung und die Erleichterung) betitelte. Dieses Werk nun erläuterte al-Ḥāfiẓ as-Suyūṭī (gest. 911/1505) in seinem Buch Tadrīb ar-rāwī (Das Ausbilden des Überlieferers). Eine andere wichtige Zusammenfassung des Buches von Ibn as-Ṣalāḥ ist Iḫtiṣār ʿulūm al-ḥadīṯ (Die Zusammenfassung ‚der Hadithwissenschaften‘) von al-Ḥāfiẓ Ibn Kaṯīr (gest. 774/1373), das vom zeitgenössischen Hadithgelehrten aus dem Ägypten Aḥmad Šākir (gest. 1958) in al-Bāʿiṯ al-ḥaṯīṯ (Die Treibende Kraft) erläutert wurde. Ein ganz besonderes Werk verfasste al-Ḥāfiẓ al-ʿIrāqī (gest. 806/1403), nämlich Naẓm al-durar fī ʿilm al-ʿaṯar (Die Perlenstrophen der Überlieferungswissenschaft), ein aus der Muqaddimatu–bnu–Ṣalāḥ verfasstes Gedicht bestehend aus ca. 1000 Versen, welches al-Ḥāfiẓ al-Saḫāwī (gest. 902/1497) später in einem fünfbändigen Werk namens Fatḥ al-Muġīṯ (Der Sieg des Helfers) ausführlich erklärte.
Eine weitere Wende erlebten die Hadithwissenschaften durch den ‚Führer der Hadithgelehrten‘ Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī (gest. 852/1449). Er verfasste verschiedene, neu strukturierte Werke über die Hadithwissenschaften, darunter Nuḫbat-ul-Fikr (Die Auserwählte Ansicht) sowie die dazugehörige Erläuterung Nuzhat-un-Naẓar (Die unbescholtene Sichtweise). Auch an-Nukat ʿalā Kitāb Ibn aṣ–Ṣalāḥ (Die Bemerkungen zu dem Buch von Ibn Ṣalāḥ) gehört zu den bedeutenden Werken, wobei seine Erklärung zu Ṣaḥīḥ al-Buḫārī namens Fath-ul-Bārī (Der Sieg des Sachkundigen*) und die dazugehörige Einleitung Hūdā-s-sārī (Die Rechtleitung des Gehenden) als große Bereicherung gelten. Als aš-Šawkānī (gest. 1250/1839) von einigen seiner Schüler gebeten wurde, einen Kommentar zu Ṣaḥīḥ al-Buḫārī zu verfassen, antwortete er mit dem Zitat des Propheten (s): „Es gibt keine Auswanderung nach dem Sieg“ (la hiǧrata bʿad al-fatḥ!). Damit meinte er, dass Ṣaḥīḥ al-Buḫārī nach dem Werk Fath-ul-Bārī (Der Sieg des Sachkundigen) von Ibn Ḥaǧar keiner Erklärung mehr bedürfe.[22]
Kategorien der Hadithwissenschaften
Zu den wichtigsten Kategorien der Hadithwissenschaften, die sich entwickelten, zählen ʿIlm-al-ḥadīṯ riwāyatan und ʿIlm-al-ḥadīṯ dirāyatan. Auch wenn diese Einteilung erst im 7./13. Jahrhundert ausdrücklich erfolgte, so kann aus dem Titel al-Rāmahurmuzīs Buch Al-Muḥaddiṯ al-fāṣil bayna ar-rāwī wa al-wāʿī (Der unterscheidende Hadithgelehrte zwischen dem Überlieferer und dem Verstehenden*) aus dem 4./10. Jahrhundert entnommen werden, dass sie im Allgemeinen die Hadithwissenschaften in zwei Kategorien aufteilten. Die Kategorie des ʿIlm-al-ḥadīṯ riwāyatan befasst sich mit dem Tradierungsprozess von Überlieferer zu Überlieferer, sowie mit der Übermittlungsart (ṭuruq-at-taḥammul). Hier wird insbesondere der korrekten Vokalisierung der Tradentennamen und der Wörter allgemein (ḍabt al-asmāʾ wa al-alfāẓ) große Beachtung geschenkt, vor allem um Fehler zu vermeiden, die das Verständnis oder die korrekte Klassifizierung der Hadithe beeinträchtigen könnten.[23] Die Kategorie des ʿIlm-al-ḥadīṯ dirāyatan befasst sich mit Regeln (qawāʿid), auf welche die Hadithgelehrten zurückgreifen, um den Zustand einer Tradentenkette (isnād) sowie des Überlieferungstextes (matn) festzustellen und sie anschließend auf einer Authentizitätsskala einordnen zu können. Eine andere Definition dieser beiden Kategorien lautet, dass erstere sich mit dem Zustand der Überlieferungskette und der Übermittlungsart beschäftigt und darüber hinaus die Vertrauenswürdigkeit (al-ʿadālah) und Genauigkeit (al-ḍabt) der Überlieferer prüft – sie wird auch ʾuṣūl al-ḥadīṯ genannt[24] – während es bei der letzteren hauptsächlich um Hadithhermeneutik, also das Verständnis der Hadithe unter Beachtung der Regeln der arabischen Sprache und der Grundlagen der Scharia, handelt.[25] Allerdings werden die erstgenannten Definitionen werden von Hadithgelehrten bevorzugt, auch wenn diese Aufteilung in vielen Büchern der Hadithwissenschaften nicht deutlich vorkommt, sondern vielmehr beide Kategorien zusammen abgehandelt werden. So erwähnt Al-Ḥāfiẓ as-Suyūṭī in seinem Buch Tadrīb ar-rāwī (Das Anlernen des Tradenten) insgesamt 93 Teildisziplinen der Hadithwissenschaften, welche im Zuge ihrer Entwicklung separate Bücher zu vielen dieser Teildisziplinen angefertigt, kommentiert und immer weiter ausgearbeitet werden[26].
Wichtige Bücher der Hadithwissenschaften (muṣṭalaḥ) – chronologisch geordnet
- Al-Muḥaddiṯ al-fāṣil bayna ar-rāwī wa al-wāʿī (Der unterscheidende Hadithgelehrte zwischen dem Überlieferer und dem Verstehenden*) von al-Hasan Bin Ḫalād Ar-Rāmahurmuzī (gest. 360/971)
- Maʿrifatu ʿulūm al-ḥadīṯ (Die Kenntnis über die Hadithwissenschaften) von Muḥammad b. ʿAbdullāh al-Ḥākim (gest. 405/1012)
- Al-Mustaḫraǧ ʿalā ʿUlūm al-ḥadīṯ li-l-Ḥākim (Die Ergänzung der ‚Hadithwissenschaften‘ von al-Ḥākim) von Abū Nuʿaym al-Aṣbahānī (gest. 430/1038)
- al-Kifāya fī ʿilm ar-riwāya (Das ausreichende Wissen über die Überlieferungswissenschaft) und
- Al-Ǧāmiʿ li aḫlāq al-rāwī wa ādāb al-sāmiʿ (Zum Verhaltenskodex des Überliefernden und des Empfangenden*) von al-Ḥaṯīb al-Baġdādī (gest. 463/1071).
- Al-Ilmāʿ ilā maʿrifatu ʾusūl al-riwāyah wa taqyīd al-samāʿ (Der Hinweis auf das Wissen um des Überlieferns und Empfangens*) von Al-Qāḍī ʿIyāḍ (gest. 544/1149)
- Mā lā yasaʿu l-muḥaddiṯu ǧahluhu (Was ein Hadithgelehrter wissen sollte*) von Abū Ḥafṣ al-Mayānaǧī (gest. 580/1184)
- Maʿrifatu ʿulūm Al-ḥadīṯ, bekannt unter: Muqaddimatu-bnu-Ṣalāḥ (Die Kenntnis über die Hadithwissenschaften bzw. Die Einleitung von Ibn aṣ-Ṣalāḥ) von Ibn aṣ-Ṣalāḥ aṣ-Šahrazūrī (gest. 643/1265)
- Al-Taqrīb wa at-taysīr (Die Annäherung und die Erleichterung) von an-Nawawī (gest. 676/1277)
- Iḫtiṣār ʿUlūm Al-ḥadīṯ (Die Zusammenfassung der ‚Hadithwissenschaften‘) von al-Ḥāfiẓ Ibn Kaṯīr (gest. 774/1373)
- Naẓm al-durar fī ʿilm al-aṯar (Perlenstrophen zur Hadithwissenschaft) von al-Ḥāfiẓ al-ʿIrāqī (gest. 806/1403)
- Nuḫbat-ul-fikr (Die Auserwählte Ansicht) von Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī (gest. 852/1449).
- Nuzhat-un-naẓar (Die unbescholtene Sichtweise) auch von Ibn Ḥaǧar
- Fatḥ al-muġīṯ (Der Sieg des Helfers) von al-Ḥāfiẓ al-Saḫāwī (gest. 902/1497)
- Tadrīb ar-rāwī (Das Ausbilden des Überlieferers) von al-Ḥāfiẓ as-Suyūṭī (gest. 911/1505
- Al-Bāʿiṯ al-ḥaṯīṯ (Die Treibende Kraft) von Aḥmad Šākir (gest. 1958)
Vgl. al-Ṭaḥān: Taysīr muṣṭalaḥ al-ḥadīṯ, S. 13 ff.
[1] Ibn Fāris: Maqāyīs al-Luğah Bd. 2, S. 36, „حدث“.
[2] Siehe Al-Aʿẓamī: Studies in Hadith Methodology, S. 1 ff.
[3] Koran, al-Anʿām: 68 (Übersetzung von Nadeem Elyas).
[4] Ibid., Ṭāhā: 9.
[5] Überliefert von al-Buḫārī, Nr. 6098.
[6] Ibid., Nr. 3461.
[7] Siehe Al-Aʿẓamī: Hadith Methodology, S. 3; Zafar Anṣārī: Islamic juristic terminology, S. 5.
[8] Siehe: Al-Karmānī: Šarḥ al-Buḫārī, Bd. 1, S. 12; Ibn Ḥaǧar: Fatḥ-al-Bārī, Bd. 1, S. 193; As-Saḫāwī: Fatḥ-al-Muġīṯ, Bd. 1, S. 12; ʿAǧğāğ al-Ḫaṭīb: As-Sunnah qabla at-tadwīn; Siehe auch: Gharaibeh: Einführung in die Wissenschaften des Hadith, S. 11; Al-Aʿzamī: Studies in Hadith Methodology, S. 3; Jonathan Brown: Hadith, S. 3. Juristen hingegen lassen die körperlichen und charakterlichen Eigenschaften in ihrer Definition außer Acht, da durch diese in der Regel keine Normen abgeleitet werden.
[9] Ibn Taimīya: al-Fatāwā Bd. 18, S. 6–12.
[10] Al-Ṭībī: al-Ḫulāṣah fī uṣūl-il-ḥadīṯ, S. 30, Al-Aʿzamī: Studies in Hadith Methodology, S. 3.
[11] Ibid.; Ibn Ḥaǧar: Nuḫbat-ul-Fikr, S. 7.
[12] Ibn aṣ-Ṣalāḥ: ʿUlūm-al-ḥadīṯ, S. 42.
[13] Siehe ausführlicher zum Aufbau eines Hadiths: Scheiner, Jens: Der Hadith. In Rainer Brunner (Hg.), Islam., S. 110–131; Brown: Hadith, S. 6 f.
[14] Al-Buḫārī Nr. 1.
[15] Koran: An-Naḫl, Vers 44.
[16] Siehe al-Buḫārī Nr. 88; al-Zahrānī: Tadwīn as-Sunnah, S. 27.
[17] Al-Ḫuḍayr: Taḥqīq al-raġba, S. 41.
[18] Al-Ḏahabī: as-Siyar, Bd. 11, S. 42.
[19] Vgl. Al-Ḫaṭīb: al-Ǧāmiʿ Nr. 1926.
[20] Yaʿqūb b. Šaybah al-Baṣrī: Al-Musnad al-kabīr, S. 60.
[21] Übersetzung des Titels übernommen von Gharaibeh: Einführung in die Wissenschaften des Hadith. Weitere entnommene Übersetzungen der Buchtitel von Gharaibeh werden im Text mit einem Stern (*) gekennzeichnet.
[22] Ṣiddīq Ḫān: al-Ḥiṭṭah, S. 131-132; al-Kittānī: Fihris al-Fahāris, S. 322 f.
[23] Siehe As-Suyūṭī: Tadrīb ar-rāwī Bd. 1, S. 40.
[24] Ḥāǧī Ḫalīfah: Kašf al-ẓunūn Bd. 1, S. 635.
[25] Siehe Al-Mubārakfūrī: Qawāiʿd fī ʿUlūm-il-ḥadīṯ, S. 49-51.
[26] Die Online-Datenbank (https://k-tb.com/) listet aktuell 8703 Titeln arabischsprachiger Abhandlungen im Bereich der Hadithwissenschaften auf. Hier kann sie als PDF heruntergeladen werden.