Darf man für islamische Wissensvermittlung Geld nehmen?

Feb. 8, 2025Aktuelle Themen

Im Islam spielt das aufrichtige Verrichten von gottesdienstlichen Handlungen (ʿibādāt) eine bedeutende Rolle. Oft stellt sich dabei die Frage, ob es erlaubt ist, für das Lehren des Qurʾān, für eine ruqyah (Heilrezitation) oder für andere religiöse Handlungen ein Entgelt anzunehmen. Dieser Artikel beleuchtet aus muslimischer Perspektive die unterschiedlichen Gelehrtenmeinungen und Koranstellen zu diesem Thema, liefert Belege aus dem Qurʾān und der Sunna und gibt praxisnahe Anhaltspunkte für die Umsetzung in unserer heutigen Zeit. 

1. Grundsatz: Wer nur Weltliches anstrebt, wird nicht belohnt

Der Grundsatz bei gottesdienstlichen Handlungen (ʿibādāt) besteht darin, dass ein Muslim keinen Lohn im Jenseits bekommt, wenn er sie lediglich verrichtet, um weltliche Ziele zu erreichen. Allāh sagt sinngemäß in Sūra Hūd (11), Vers 15–16:

„Diejenigen, die das diesseitige Leben und seinen Schmuck begehren, denen vergelten Wir ihre Taten darin voll, und sie werden darin nicht verkürzt. Das sind diejenigen, für die es im Jenseits nur das (Höllen)feuer gibt. Nutzlos ist, was sie in ihm gemacht haben, und hinfällig ist, was sie zu tun pflegten.“

Wer seine ʿibāda also nur mit dem Ziel verrichtet, weltlichen Nutzen zu erlangen, dem wird im Jenseits kein Lohn zuteil. Die Aufrichtigkeit gegenüber Allāh bildet die Grundlage aller gottesdienstlichen Handlungen.

2. Erlaubnis: Lohn für gottesdienstliche Handlungen mit Nutzen für andere

Wenn jedoch eine gottesdienstliche Handlung (ʿibāda) anderen Menschen zugutekommt – zum Beispiel das Rezitieren einer ruqyah (Heilrezitation) mit dem Qurʾān oder das Lehren von Qurʾān und ḥadīṯ –, dann ist es nach Auffassung der Mehrheit der Gelehrten erlaubt, dafür einen Lohn zu nehmen. Zwar vertraten ältere ḥanafītische Gelehrte die Auffassung, dies sei untersagt, doch die Mehrheit begründet ihre Erlaubnis damit, dass diejenigen, die lernen oder geheilt werden, einen klaren Nutzen daraus ziehen.

2.1 Beleg aus der Sunna

Ein bekannter Beleg findet sich in einem Bericht von Abū Saʿīd al-Ḫudrī:

„Eine Gruppe von Gefährten des Propheten (s) brach zu einer Reise auf, die sie unternahmen, bis sie bei einem (Wohn)Stamm der Araber Station machten. Sie baten diese um Gastfreundschaft, doch jene weigerten sich, sie zu beherbergen. Da wurde der Anführer jenes Stammes (von einem giftigen Tier) gestochen, und sie versuchten alles (Mögliche) für ihn, doch nichts nützte ihm. Einige (von den Leuten des Stammes) sagten: ‚Geht doch zu den Männern, die da (bei uns) herabgekommen sind; vielleicht ist bei einem von ihnen etwas (das hilft).‘ Sie kamen also zu ihnen und sagten: ‚O ihr Männer, unser Anführer ist gestochen worden, und wir haben alles für ihn getan, aber nichts hilft ihm. Hat einer von euch etwas (Nützliches)?‘ Da sagte einer von (den Gefährten): ‚Ja, bei Allāh, ich kann (Heil)formeln sprechen. Doch bei Allāh, wir haben euch um Gastfreundschaft gebeten, aber ihr habt uns nicht beherbergt. So werde ich erst dann für euch (eine Ruqyah) sprechen, wenn ihr uns einen Lohn bestimmt.‘ Sie vereinbarten also mit ihnen (als Lohn) eine Herde Schafe. So ging er hin, spuckte auf ihn (den Gestrochenen) und las (die Worte): Al-ḥamdu li-llāhi Rabbi l-ʿālamīn (den Anfang der Sūrat al-Fātiḥa). Da war es, als wäre er von einer Fessel befreit worden, und er lief umher, ohne dass ihn irgendetwas (noch) plagte.

Dann gaben sie (die Stammesleute) ihnen den Lohn, den sie vereinbart hatten. Einige (der Gefährten) sagten: ‚Teilt (die Schafe) auf!‘ Aber derjenige, der (die Ruqyah) gesprochen hatte, sagte: ‚Tut das nicht, ehe wir zum Propheten – Allāh segne ihn und gebe ihm Frieden – kommen, ihm berichten, was (geschehen) ist, und schauen, was er uns befiehlt.‘ So kamen sie zum Gesandten Allāhs (s) und erzählten ihm davon. Er sagte: ‚Woher wusstest du, dass sie eine (wirksame) Ruqyah ist?‘ Dann sagte er: ‚Ihr habt richtig gehandelt. Teilt (die Schafe) auf und gebt auch mir einen Anteil davon.‘ Darauf lachte der Gesandte Allāhs – Allāh segne ihn und gebe ihm Frieden.“

(al-Buḫārī, Hadith Nr. 2276. In Kurzform auch bei Muslim, Hadith Nr. 2201.)

In einer ähnlichen Überlieferung heißt es am Ende:

„Wahrlich, es gibt nichts, wofür ihr eher einen Lohn nehmen dürft, als das Buch Allāhs.“

(ḥadīṯ bei al-Buḫārī, Nr. 5737)

Al-Nawawī (raḥimahullāh) kommentierte in seiner Erläuterung zu Muslim:

„Dies ist ein eindeutiger Beweis für die Erlaubnis, einen Lohn für das Rezitieren der Fātiḥa und des ḏikr (als ruqyah) zu nehmen und dafür, dass dies erlaubt und nicht verwerflich ist. Ebenso ist es erlaubt, einen Lohn für das Lehren des Qurʾān zu nehmen.“

2.2 Aussagen der Gelehrten

Die Gelehrten des Ständigen Fatwā-Ausschusses (al-Ladschna ad-Dāʾima) betonten ebenfalls:

„Es ist erlaubt, einen Lohn für das Lehren des Qurʾān zu nehmen. Der Prophet (ṣ) ließ einmal einen Mann seine Frau heiraten, indem dieser ihr das lehrte, was er vom Qurʾān auswendig konnte; dies zählte dann als ihre Brautgabe. Auch nahm ein Gefährte einmal einen Lohn dafür, dass er durch Rezitation der Fātiḥa einen kranken Nichtmuslim heilte. Verboten hingegen ist das Nehmen eines Lohns für das bloße Rezitieren des Qurʾān selbst und das Betteln bei den Menschen mit dessen Rezitation.“ (Fatāwā-Ladschna Dāʾima, 15/96)

Demnach darf man für eine Dienstleistung, die anderen nützt – wie Unterrichten oder ruqyah –, entlohnt werden. Nicht aber für das reine Rezitieren zur eigenen Frömmigkeit oder zum Spendensammeln.

3. Koranverse und ihre richtige Deutung

Nun könnte man argumentieren, einige Verse würden darauf hindeuten, dass es generell verboten sei, für das Lehren von Qurʾān, ḥadīṯ und anderen islamischen Wissenschaften einen Lohn zu nehmen. Allerdings reicht ihre Beweisführung für ein umfassendes Verbot nicht aus, denn die eigentliche Bedeutung dieser Verse unterscheidet sich vom Kontext der Entlohnung für nützliche Dienste.

3.1 Sūra al-Baqara (2), Vers 41

Allāh, der Erhabene, sagt sinngemäß:

„Und glaubt an das, was Ich (als Offenbarung) herabgesandt habe und was das bestätigt, was bei euch ist, und seid nicht die ersten Ungläubigen daran, und verkauft nicht Meine Zeichen für einen geringen Preis, und fürchtet nur Mich.“

Mit „einen geringen Preis“ ist hier nicht die Entlohnung für das Lehren des Qurʾān gemeint, sondern vielmehr die Praxis, religiöse Wahrheiten zu verbergen oder zu verfälschen, um den Beifall der Allgemeinheit zu gewinnen. Al-Ṭāhir ibn ʿĀschūr (raḥimahullāh) erklärte hierzu, dass die damaligen Schriftbesitzer die Wahrheit verfremdeten, um sich Ansehen und Führungspositionen zu sichern, ohne wirklich fundiertes Wissen zu besitzen.

3.2 Sūra Yā-Sīn (36), Vers 21

Ebenso wird manchmal der Vers aus Sūra Yā-Sīn herangezogen:

„Folgt denjenigen, die von euch keinen Lohn verlangen und (trotzdem) rechtgeleitet sind!“

Manche Gelehrte folgerten daraus, dass es unzulässig sei, für das religiöse Lehren Lohn zu verlangen, weil dieses Merkmal bei den Gesandten (und ihren wahren Nachfolgern) hervorgehoben werde. Allerdings lässt sich der Vers so verstehen, dass er insbesondere auf jene Propheten zielt, deren Pflicht es war, die göttliche Botschaft unentgeltlich weiterzugeben. Für andere Personen, besteht hingegen die Erlaubnis, eine Entlohnung anzunehmen, sofern die Absicht für Allāh aufrichtig bleibt.

Scheich Muḥammad al-Amīn aš-Šanqīṭī (raḥimahullāh) und Schaich al-Islām Ibn Taimīya (raḥimahullāh) vertreten eine differenzierte Sicht: Sie halten es für besser, unentgeltlich zu unterrichten, wenn man nicht darauf angewiesen ist. Braucht jemand jedoch das Geld zum Lebensunterhalt, ist es ihm erlaubt, im notwendigen Rahmen Entlohnung zu nehmen.

4. Praktische Schlussfolgerungen

1. Keine eindeutige Qurʾān-Stelle: Es gibt keinen Vers, der den Lohn für eine ʿibāda, die anderen nützt, ausdrücklich verbietet.

2. Klare Belege aus der Sunna: Ḥadīṯe belegen die Erlaubnis, für das Lehren des Qurʾān oder für ruqyah entlohnt zu werden.

3. Aufrichtigkeit ist entscheidend: Wer über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, sollte sein Wissen unentgeltlich weitergeben, denn das ist lobenswerter. Wer auf ein Einkommen angewiesen ist, kann jedoch einen Lohn annehmen, ohne dass dies als verwerflich gilt.

4. Vorsicht vor Missbrauch: Das Wissen um Allāh (taʿālā) und Seinen Gesandten (ṣallā Allāhu ʿalaihi wa-sallam) darf nicht missbraucht werden, um unrechtmäßige Gewinne zu erzielen oder die Religion zu verfälschen.

5. Übertragung in die heutige Zeit

In unserer heutigen Gesellschaft haben sich die Lebensverhältnisse stark verändert. Die Kosten für Wohnen, Lebensmittel und allgemeine Versorgung sind hoch, sodass viele Muslime, die sich intensiv dem Unterricht oder der Weitergabe religiösen Wissens widmen, ihren Lebensunterhalt sichern müssen.

5.1 Berufliche Realität

Wer sich hauptberuflich dem islamischen Unterricht widmen möchte, steht vor der Wahl: Entweder er geht einer weltlichen Arbeit nach und hat nur noch begrenzt Zeit für das Lehren, oder er unterrichtet intensiv und riskiert finanzielle Engpässe. Dazu sollte es nicht kommen, wenn die muslimische Gemeinschaft sich aktiv dafür einsetzt, Imāme und islamische Lehrer so zu unterstützen, dass sie einen guten Lebensstandard führen können.

5.2 Vergleich mit anderen Berufen

Niemand würde erwarten, einen Arztbesuch kostenlos zu erhalten oder einen Anwalt ohne Honorar in Anspruch zu nehmen. Der islamische Lehrer erbringt ebenfalls eine wertvolle Dienstleistung – wenn nicht sogar eine noch wichtigere –, von der die Gemeinschaft profitiert. Daher ist es berechtigt, dass er für seinen Zeit- und Kraftaufwand eine angemessene Vergütung erhält, ja sogar eine gut bezahlte Vergütung als Wertschätzung.

5.3 Wertschätzung und Professionalität

Hat sich jemand gefragt, warum Ärzte, Lehrer oder Anwälte oftmals sehr gut bezahlt werden? Imāme und islamische Lehrer leisten mindestens eine ebenso wertvolle Arbeit. Dies sollte entsprechend wertgeschätzt werden. Indem die Gemeinde den Dienst von qualifizierten Lehrern entlohnt, erhält sie nachhaltig fundiertes religiöses Wissen und stellt sicher, dass kompetente Lehrende ihren Lebensunterhalt bestreiten können. So wird das islamische Erbe in hoher Qualität weitergegeben, ohne dass Lehrer auf weltliche Berufe ausweichen müssen und dadurch weniger Zeit zur Verfügung steht, die muslimische Gemeinschaft zu unterrichten. 

Gerade der Beruf eines Imāms und islamischen Lehrers erfordert oft eine Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft (24/7). Ob es seelsorgerische Tätigkeiten sind, Religionsunterricht, Unterstützung bei familiären Angelegenheiten oder Fragen in Glaubensangelegenheiten: Die Verantwortung und die zeitliche Beanspruchung sind sehr hoch. Auch Imāme und Lehrer haben Familien zu versorgen und stehen vor denselben finanziellen Herausforderungen wie andere Berufsgruppen.

5.4 Ein notwendiger Bewusstseinswandel

Aus der Perspektive der muslimischen Gemeinschaft sollte daher ein Umdenken stattfinden. Ein islamischer Lehrer sollte Anrecht darauf haben, einen angemessenen Lebensstil führen zu können, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Wenn wir den Wert des religiösen Wissens hochhalten, muss auch der Stellenwert derer, die es lehren, angehoben werden. Somit leistet die Gemeinschaft ihren Beitrag, das religiöse Wissen langfristig zu bewahren und in hoher Qualität weiterzugeben.

Islamische Lehre – nicht nur in Moscheen

Zudem beschränkt sich die Vermittlung islamischen Wissens längst nicht mehr nur auf Moscheen. Immer häufiger findet sie auch in Akademien, Universitäten und Schulen statt. Dort investieren Dozenten und Lehrer – je nach Umfang ihrer Tätigkeit und ihrer Qualifikation – erhebliche Zeit und Mühe in Vor- und Nachbereitung, Lehrmaterialien und Unterrichtsgestaltung. Entsprechend ihrer Lebenssituation und ihres Einsatzes ist auch eine angemessene Entlohnung angebracht. Wer Vollzeit unterrichtet, sollte daher ebenso wie andere Fachkräfte die Möglichkeit haben, einen soliden Lebensunterhalt aus dieser Tätigkeit zu bestreiten.

Fazit

Die Meinungsvielfalt unter den islamischen Gelehrten zeigt, wie differenziert die Frage des Lohnnehmens für Qurʾān-Unterricht, ruqyah oder das Lehren anderer islamischer Wissenschaften betrachtet werden muss. Während einige Gelehrte es grundsätzlich ablehnen, erlaubt die Mehrheit das Nehmen eines Lohns, sofern dabei die Aufrichtigkeit gegenüber Allāh erhalten bleibt und ein tatsächlicher Nutzen für den Lernenden oder den Kranken entsteht. Wer in der Lage ist, sollte sein Wissen jedoch ohne Gegenleistung weitergeben, um den Lohn dafür bei Allāh zu erlangen. In unserer heutigen Zeit, in denen die Lebensumstände sich stark verändert haben, ist es umso wichtiger, dass islamische Lehrer, Imāme und Gelehrte fair entlohnt werden, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können, ohne Abstriche bei der Qualität ihrer Lehre machen zu müssen. Eine gut funktionierende muslimische Gemeinschaft basiert darauf, dass religiöses Wissen bewahrt, vermittelt und gelebt wird – und dafür müssen die Träger dieses Wissens entsprechend unterstützt werden.

Möchtest du mehr über authentische ḥadīṯe, ihre Bedeutung und Anwendung erfahren? Besuche uns gerne auf unserer Plattform Hadith-Akademie.de. Dort findest vertiefende Informationen und kannst Wissen über die Sunna des Propheten (ṣ) erweitern.

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